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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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waren unsere Seele, der Ursprung dessen, was wir waren und taten. Mehr brauchten wir nicht.
    Doch unsere vier Augen, meine wie die See, Tillmanns wie das Feuer, genügten nicht. Zwei weitere warteten auf uns, schwarze Spiegel, die darauf hofften, ein Ebenbild zu bekommen, und die zu glitzern und zu funkeln beginnen würden, wenn wir ihnen Leben einhauchten.
    »Lass uns hinuntergehen«, sagte ich träge. Auch meine Worte konnte ich fühlen, federleicht, ätherisch und grazil schwebten sie durch die heiße Luft. Wir ließen unsere Körper entscheiden, wann und wie sie aufstehen wollten; sie taten es ohne jegliche Eile, wozu Hektik? Wozu Getriebenheit? Unsere Gedanken konnten erst ihre Knospen und Blüten entwickeln, wenn wir unserem Körper genügend Zeit und Raum gaben, und der war mir hier oben, zwischen den kahlen Wänden des Dachzimmers, zu eng.
    Die Treppe war ein Abenteuer – ein Abenteuer ohne Aufregung und Spannung, aber berauschender als die mutigsten Unternehmungen, die ich bisher durchgestanden hatte. Das Geländer schmiegte sich in Wellen an mich, als ich meine Handfläche auf das glatte, geschmirgelte Holz legte und das Harz in ihm roch und auch das Laub, das es einst hervorgebracht hatte. Es war niemals gestorben. Die Stufen veränderten ihre Größe, als wollten sie uns necken, doch nie war ich in Gefahr zu fallen, weil ich die Fähigkeit hatte vorherzusehen, ob sie wachsen oder schrumpfen oder in eine Schräge rutschen würden. Ich hätte auch auf einem dünnen Seil laufen können, Hunderte Meter über der Erde.
    Wir genossen es, unsere nackten Füße auf dem glatten Terrakottaboden zu spüren, nachdem wir die Treppe bewältigt hatten, ohne Sturz, ohne das geringste Straucheln oder Torkeln. Wir waren Trapezkünstler. Als Tillmann den Stecker der Anlage in die Buchse der Wand versenkte, sah ich, wie die Steine unter dem Verputz darauf reagierten, kurz erzitterten. Ja, die gesamte Wand fing an zu atmen, während die Musik einsetzte, wich vor uns zurück und näherte sich wieder.
    Hinter mir nahm ich zwei Schatten wahr, ohne mich umdrehen zu müssen. Doch sie interessierten mich nicht, es waren lediglich Zuschauer, die still auf den Fliesen saßen und uns beobachteten, sie gehörten nicht zu unserer Welt.
    Tillmann und ich hatten nur noch ein Bedürfnis: der Musik zu lauschen, sie zu sehen und zu schmecken und den schwarzen Spiegeln dort draußen zu begegnen. Wir waren für sie da, während der Kosmos für uns da war und uns in seine Geheimnisse eintauchen ließ.
    Vielleicht war es so, wenn man tot war. Man bestand aus Augen, die mehr sahen, als es uns in unserem Leben je möglich gewesen war. Wie den kleinen, gelb gesprenkelten Käfer, der emsig den Verandapfosten emporkrabbelte. Vorher hatte ich Wesen wie ihn lediglich betrachten können, seine Ausmaße, seinen Körperbau, seine Färbung. Doch jetzt sah ich ihn, ich erkannte ihn, ich wusste um seine Fähigkeiten und auch, woher sie rührten, dass sie mit alldem zu tun hatten, was uns umgab, dem heißen Wind, dem Spiel der Silberpappeln, den Geckos, die zwischen den Steinen ruhten und darauf warteten, erwachen zu dürfen, den Fledermäusen, deren Ultraschalllaute violette Kringel in die Luft malten, dem Meer, dessen Fische ich durchs schwere, salzige Wasser flitzen spürte. Einzeln war dieser Käfer gar nicht zu begreifen. Wie nur konnte man auf die Idee kommen, ihn zu töten, aufzuspießen und unter einer Glasscheibe in einen Rahmen zu pressen? Ohne uns existierte er doch gar nicht, genau wie wir nicht ohne ihn existierten. Ich stand in Kontakt mit ihm. Ich war wichtig für ihn. Ich konnte ihn aufhalten oder antreiben, wenn ich wollte, doch es war viel verzückender, ihn einfach sein zu lassen. So wie er war.
    Stundenlang, wie es mir schien, tauchte ich in seinen Organismus ein, bis ich erneut von den Klängen der Musik gestreift wurde und mich ihnen widmen wollte, ohne den Käfer vollständig zu verlassen.
    Ich hatte immer geahnt, dass die Songs von Moby nicht nur das waren, was man hörte. Wenn ich sie beim Einschlafen laufen ließ, begannen ihre Harmonien in meine Venen und Adergeflechte zu fließen und entwickelten sich zu einem tiefen, beruhigenden Sog, der immer mehr Facetten und Schichtungen hervorbrachte. Nun konnte ich diese Schichtungen vor mir sehen, sie anfassen und kräuseln, wenn ich dagegenpustete. In den tiefen Lagen klangen sie blau – azurblau, kobaltblau, schwarzblau, graublau, türkisblau, tausend Schattierungen, die miteinander

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