Dornenkuss
die Muße, mir unten etwas zum Ankleiden herauszusuchen. Kurzerhand nahm ich eines von Tillmanns Shirts, streifte es über und angelte mir einen Gürtel von seinem Bett, um es zu einer Art Kleid zu schnüren. Für Tessa musste ich mich nicht schön machen, aber halb nackt wollte ich ihr auch nicht gegenübertreten. Viel entspannter fühlte ich mich mit dem Shirt jedoch nicht. Es reichte nur knapp bis über meine Pobacken.
Waren die Pilze etwa in den Drinks, die Tillmann zwischen uns auf den Boden gestellt hatte? Ich wollte mich niederknien, um an ihnen zu schnüffeln, als plötzlich ein paar Fledermäuse durch die Balkontür ins Zimmer rauschten, klickend und zirpend den Wänden auswichen und sofort wieder verschwanden.
»Krass«, murmelte Tillmann. »Hör mal, Ellie, wenn du dir nicht sicher bist und Angst hast, dann lass es sein. Ist schon okay. Ich ziehe es auch allein durch.«
»Nein, ich hab keine Angst. Ich will, dass es passiert. Ich bin nur nicht gerade gelöst. Es ist irgendwie … ein Gefühl, als dürfe ich nicht gelöst sein oder gar lachen …«
»Du musst daran denken, dass der Trip deine Schutzhülle ist. Dein U-Boot.« Oh, nun war er aber wieder besonders schlau. »Er lässt dich alles anders erleben, faszinierender und weniger bedrohlich, wahrscheinlich sogar überhaupt nicht bedrohlich – wenn du ihn wirklich nehmen willst und dich auch sonst gut fühlst.«
Ein Trip als eine Schutzhülle? Tessa anders erleben als die letzten Male? Oh ja, das wollte ich. Es war eine reizvolle Vorstellung, sich in einen Zustand zu versetzen, der das Grauen ausschloss. In dem man all das erlebte wie einen Film, der gar nichts mit der eigenen Wirklichkeit zu tun hatte. Ich spürte, wie die Neugierde in mir zu bohren begann. Ja, verdammt, ich wollte diese Pilze nehmen. Ich wollte mein Drogen-U-Boot haben. Aber …
»Warte, ich habe eine Idee.« Tillmann machte sich ein weiteres Mal an der MP3-Anlage zu schaffen. »Okay, da hab ich es. Lehn dich zurück und hör zu …«
Überrascht nahm ich das Knistern einer Schallplatte wahr, die ohne technische Finessen digitalisiert worden war. Dem Knistern folgten sogleich die ersten langsamen Takte einer uralten Schnulze. Tillmann hörte Schnulzen?
»Was ist das denn? Das klingt nach Fünfzigerjahre oder so, wieso hast du so was in deiner Sammlung?«
»Das ist nicht aus meiner Sammlung, sondern aus Giannas.«
Aha, Giannas Sammlung. Dass Gianna in Verliebtheitsmomenten nicht einmal vor Schlagern zurückschreckte, wusste ich spätestens seit Hamburg. Doch dieser Sänger hatte eine tiefe, volle Stimme, die mir vage bekannt vorkam. Irgendwo hatte ich sie schon einmal gehört.
»Ich glaub, den kenne ich … Ist das nicht dieser fette Ami, der schon lange tot ist? Warum hörst du denn so etwas?«
»Ellie, wenn du nicht bald still bist, stopf ich dir eine Socke in den Mund!«
Ich zog übertrieben meine Lippen ein, um Tillmann zu demonstrieren, dass ich meine Klappe halten würde.
»Danke schön«, kommentierte er seufzend. »Das ist Elvis Presley, Are You Lonesome Tonight, die Lachversion. Er hat den Song live gesungen und dabei spontan den Text geändert. Statt der ursprünglichen Lyrics singt er ›Do you gaze at your bald head and wish you had hair?‹ und in dem Moment hat er einen Mann mit Glatze im Publikum gesehen und einen Lachanfall bekommen. Du verstehst, was er da gesagt hat, oder?«
Natürlich tat ich das. Starrst du auf deinen kahlen Schädel und wünschst dir, du hättest Haare? Ja, ganz lustig, es zeugte von Sprachwitz und Kreativität, aber ich bezweifelte, dass mich allein das und ein paar Lacher eines verstorbenen Schmalztollenträgers (laut Gianna übrigens befallen oder ein Halbblut) erheitern konnten. Dennoch fügte ich mich. Tillmann schaltete den Song wieder ein.
Nun kam der Part, den Tillmann zitiert hatte, und Elvis begann zu lachen, während die Band stur weiterspielte und die Backgroundsängerin in den höchsten Tönen und vollem Ernst tirilierte. Auch Elvis versuchte, den Song durchzuziehen, doch er scheiterte bei jedem neuen Versuch. Das alles war sicherlich komisch und ungeplant und für das Publikum sehr amüsant, doch was mich zutiefst berührte und mitriss (etwas, womit ich nicht gerechnet hatte), war die Art und Weise, wie er lachte. Es war ungelogen das schönste Männerlachen, das ich jemals gehört hatte. Man konnte an seinem Lachen – so offen, so spontan, so jung – hören, dass er musikalisch war, aber vor allem konnte ich hören,
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