Dornenkuss
nichts! Sie spricht Altitalienisch mit einem schrecklich groben Akzent, ich kann nur erahnen, was sie meint. Außerdem glaube ich nicht, dass sie etwas weiß. Sie wusste ja nicht einmal, wo sie war!«
»Trotzdem müssen wir es prüfen.«
»Ich kann nicht fassen, wie du jetzt, in diesem Moment, daran denken kannst, deinen Vater zu suchen!« Endlich erhob Gianna sich und schnappte sich ein Handtuch, bevor der ablaufende Schaum ihren nackten Körper entblößen konnte.
Ich antwortete nichts. Wie konnte ich denn nicht an meinen Vater denken? Es war mir, als sei er der Einzige, der uns aus diesem Albtraum retten konnte. Er war ausgebildeter Arzt. Er hatte seine eigene Klinik geleitet. Er hätte sicher gewusst, was zu tun gewesen wäre.
»Geh ein Stück zur Seite, Ellie, bitte.«
Meiner Meinung nach übertrieb Gianna in ihrem Wunsch, mir nicht zu nahe zu geraten, noch hatte ich keine Pestbeulen am Körper. Dennoch kam ich ihm nach und stellte mich an das kleine Fenster, während sie sich abtrocknete und etwas überzog.
Es war dunkel geworden, die Nacht war längst hereingebrochen. Im Garten begann Colin damit, die Kleider zu verbrennen. Seine harschen Bewegungen wirkten wütend. Ein beißender und zugleich süßlicher Gestank wehte zu uns herüber, als der Stoff in den Flammen aufging. Eilig schloss ich das Fenster, obwohl man in der dampfigen Luft des überhitzten Badezimmers kaum mehr atmen konnte.
Als Paul ohne Vorwarnung die Tür aufriss, zerstreute sich der Dunst, um sich sogleich in neuen Schlieren vor unsere Augen zu schieben.
»Was hab ich euch gesagt? Ihr sollt nach oben verschwinden! Fass nichts an, Ellie, Finger weg vom Treppengeländer, ich habe alles frisch desinfiziert.«
Im Flur roch es wie in einer Klinik. Ich hasste dieses Aroma. Man fühlte sich sofort krank, wenn man es inhalierte. Flach atmend stapfte ich hinter Gianna die Treppe hoch.
»Ich komme gleich zu euch, ich muss sie noch ins Bett bringen und ruhigstellen.«
Ja, bitte tu das, dachte ich gequält. Das Klicken des Lichtschalters und das Rütteln an der Tür wechselten sich im Sekundentakt ab. Es raubte einem den letzten Nerv.
Tillmann lag ausgestreckt auf dem Bett unter der Schräge, sein Gesicht immer noch bleich, die Augen geschlossen. Verlegen setzte sich Gianna auf das andere Bett. Ich, nun offenbar die Aussätzige unter uns dreien, schob die Luftmatratze an die Wand, so weit weg wie möglich von Tillmann und Gianna, zog es aber ebenfalls vor zu sitzen. Ich hatte das Gefühl, dass mein Immunsystem kollabieren würde, sobald ich mich hinlegte und meinem Körper Ruhe gönnte.
»Hat es eigentlich jemand bemerkt?«, fragte ich vorsichtig nach. »Mein Schreien? Und so?« Ich hatte geschrien wie eine Verrückte. Gerade jetzt, wo alle lieber schwiegen als redeten, schrillte es wieder als pfeifendes Echo durch meine Gehörgänge.
»Du hast nicht geschrien, Ellie«, berichtigte mich Tillmann. Er klang wie ein Roboter. »Das war Tessa. Sie ist nicht gleich … gestorben.«
»Hat aber niemand mitbekommen«, wisperte Gianna. »Fußball. Heute ist ein WM-Spiel. Wir haben doch Fußball-WM. Die haben alle gerade selbst gebrüllt wie blöd.«
Fußball-WM. Richtig, diesen Sommer fand ja die Weltmeisterschaft statt. Wie weit weg das normale Leben doch war! Wir hatten nichts mehr mit ihm zu tun. Ich hatte also gar nicht geschrien?
»Was hab ich denn dann gemacht, wenn ich nicht geschrien habe? Ich hab mich selbst nicht mehr gesehen. Jedenfalls nicht so, wie ich bin.« Ich war eine Schlange gewesen, ein schuppiges Reptil.
»Du wolltest auf sie draufkriechen. Wir haben es gerade so geschafft, dich von ihr runterzuziehen. Und dann …«
»Sei still, Tillmann, ich will davon nichts mehr hören!«, keifte Gianna. »Ich halte das nicht aus!« Wütend blitzte sie mich an. »Das gilt auch für dich, Ellie! Sag nichts mehr!«
Wir taten ihr den Gefallen, auch wenn ich mich danach sehnte, mit Gianna und Tillmann zu sprechen, um meinen eigenen Gedanken nicht lauschen zu müssen. Also schwiegen wir, bis Pauls schwere Schritte auf der Treppe ertönten. Ich kam mir vor wie in einer schlechten Arztserie, als er durch die Tür trat. Er trug einen kompletten grünen OP-Anzug, inklusive Häubchen und Schlupfschuhen. Seine großen Chirurgenhände hatte er in enge Gummihandschuhe gequetscht. Wir sahen nur seine Augen, weil er einen weißen Mundschutz übergestreift hatte. Unter anderen Umständen hätte ich über seinen Anblick gelacht. Jetzt aber kam mir mein
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