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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Tillmann noch Drogen übrig hatte? Vielleicht etwas anderes als die Pilze? Etwas Stärkeres? Da, diese kleine eckige Schachtel hinter dem Rasierer sah verdächtig aus …
    Ich hatte nicht bemerkt, wie Tillmann hinter mir aufgestanden war, und schrak zusammen, als er die Schachtel vom Regalbrett fegte, geschickt auffing und ihren Inhalt ins Klo kippte. Die Spülung war nur ein dünnes Bächlein, doch es genügte, um die kleinen Briefchen und Pillen ins Jenseits zu befördern.
    »Denk nicht dran, Ellie!«, fuhr er mich an. »Das Zeug ist Gift für dich! Ich hatte dir eine so winzige Menge von den Pilzen gegeben, dass ich schon Angst hatte, es passiert gar nichts. Und dann hattest du einen megastarken Trip, mit Synästhesien und allem Drum und Dran. Du bist so empfindlich, das ist der absolute Wahnsinn!«
    Der absolute Wahnsinn. Ja, vielleicht hätte ich ein bisschen von diesem Wahnsinn gebrauchen können, dem weichen, schönen, bunten Wahnsinn und nicht dem panischen, entsetzten Wahnsinn, der nun kommen und mich packen würde.
    Noch immer rauschte das Wasser durch die Rohre. Trotzdem vernahmen wir von unten ein schleifendes Geräusch und ein gutturales Kichern. Paul und Colin brachten Tessa in den Salon. Ich hatte den Salon immer als unheimlich empfunden, nun hatte er seine passende Bewohnerin. Stühle wurden gerückt und die Fensterläden verrammelt. Sie bereiteten ihr ein Lager.
    Tillmann sank wieder neben mir auf den Boden. Ich wickelte das Handtuch fester um meine Schultern, als ich mich dazusetzte, denn Tillmanns Schlottern übertrug sich auf mich.
    »Oh Gott, Scheiße … Scheiße …«, flüsterte er. »Was haben wir nur gemacht? Was hab ich gemacht?«
    Es dauerte einige Minuten, bis ich kapierte, dass er weinte. Ich hatte ihn noch nie weinen sehen. Als ein normales Weinen konnte man es jedoch nicht bezeichnen. Ab und zu durchlief ein Zittern seinen Körper, wie eine Welle, und er schluchzte kurz auf, ohne sein Gesicht zu verziehen, die Augen gesenkt, die geballten Fäuste gegen sein bebendes Kinn gedrückt.
    Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich sah ihn plötzlich wieder als das, was er im Grunde war: ein siebzehnjähriger Junge, fern von zu Hause, mit zerstrittenen Eltern und ohne greifbare Zukunft. Er war so jung! Tessa hatte dafür gesorgt, dass man es nicht sah und auch nicht spürte. Er wirkte viel älter, ganz besonders dann, wenn er wie so oft altklug daherredete. Aber er war siebzehn, nicht einmal volljährig. Siebzehn! Wo hatten wir ihn da nur hineingezogen? Er hatte einen Mord begangen, zumindest dachte er das, und ja, wir hatten diesen Mord auch als solchen geplant. Seine Hände, deren Knöchel nun weiß hervortraten, hatten das Messer geführt und in Tessas Brust gestoßen. Ich hatte es für das einzig Richtige gehalten, noch richtiger, als Colin gegen François antreten zu lassen, doch nun fragte ich mich verzweifelt, ob es nicht eine andere Möglichkeit gegeben hätte. Denn der wahre Horror sollte erst beginnen. Wenn wir an der Pest erkrankten, war dieser Abend nur die harmlose Ouvertüre gewesen.
    Ich legte meine linke Hand um Tillmanns Hinterkopf und strich ihm über den Nacken, sobald das trockene Schluchzen ihn wieder erschütterte, mehr nicht. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er in den Arm genommen werden wollte oder gar von mir gehalten. Vielleicht wäre Colin der bessere Tröster gewesen in seiner Konsequenz und Lebenserfahrung, doch der war unten damit beschäftigt, seiner schlimmsten Heimsuchung die modrigen Kleider vom Leib zu streifen. Wie sehr es ihn ekeln musste …
    Und Gianna? Noch immer brauste das Wasser durch die Leitungen. Was trieb sie da bloß? Plötzlich war sie meine größte Sorge. Wenn sie bei Tessas Ankunft immer noch unter Schock gestanden hatte, musste sie in einem katastrophalen Zustand sein.
    »Tillmann, ich muss nach Gianna sehen. Ich komme gleich wieder hoch.«
    Ja, ich musste mich um sie kümmern, auch um meinen eigenen Angstgedanken zu entfliehen, die immer greifbarer und gnadenloser wurden. Die Halluzinogene wichen endgültig aus meinem Blut. Wenn ich wieder vollkommen nüchtern war, würde ich die Wände hinaufkriechen vor lauter Panik. Schon jetzt schwebte das kleine Wörtchen »Pest« wie ein Damoklesschwert über meinem Haupt. Die Pest war kein Dämon, den man austreiben konnte. Sondern ein Bakterium. Eine Geißel, gegen die wir nichts in der Hand hatten, keinen Zauber und keine symbolischen Formeln.
    Ich fuhr Tillmann mit dem Zeigefinger über die

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