Dornenkuss
rieselten auf seine nackten Unterarme und glitzerten in der Sonne. Er war beschäftigt; Italiener telefonierten gerne exzessiv, das konnte ein paar Minuten dauern. Ich ließ meine Augen über den Flügel gleiten. Ach, wie niedlich, ein angebissener Riegel Kinderschokolade, der auf dem kleinen Absatz neben den tiefen Tasten lag und schon zu schmelzen begann. Ich widerstand der Versuchung, ihn mir zu schnappen und in den Mund zu stopfen. Ich liebte halb geschmolzene Kinderschokolade, so weich, das man die Reste anschließend vom Silberpapier schlecken musste. Eine Sauerei, aber für mich eine kulinarische Versuchung.
Neben der Kinderschokolade zwei Bleistifte, an den Köpfen angekaut, und auf dem Flügel selbst … Notenblätter, ein paar CDs, ein Notizbuch … Ein Notizbuch.
Einstecken und mitnehmen? Nein, das war zu link, ich wollte ihn nicht beklauen; er würde es merken und sofort wissen, wer es genommen hatte. Aber war es möglich, einen Blick hineinzuwerfen? Nur kurz? Angelo war in die Hocke gegangen, irgendetwas an seinem Gespräch schien spaßig zu sein, sein Lachen wurde lauter, dann folgten eine scherzhafte Bemerkung und erneutes Lachen, wunderbar, er war abgelenkt, und ich, ich würde schnell … aha. Notenlinien, musische Notizen, sonst nichts? Nur Ideen für Songs? Hastig blätterte ich das Büchlein (festes Büttenpapier) durch. Noten, wieder Noten, eine kleine Skizze – Kritzeleien, nichts, was eine außergewöhnliche Begabung vermuten ließ, alles ganz normal –, eine Telefonnummer nebst Namen, da, das hier war Deutsch! Ein Gedicht? Doch ich hatte nicht genug Zeit, es zu lesen. Das Blatt war fast lose, es konnte auch durch Zufall verloren gegangen sein. Blitzschnell riss ich es aus dem Büchlein, faltete es zusammen und schob es in meinen Ausschnitt. Weiter. Es waren nur noch wenige Seiten, die ich durchsehen musste. Angelo hatte sich mit ausgestreckten Beinen und dem Rücken zu mir auf den Boden gesetzt, eine Hand aufgestützt, nach wie vor in seine Plauderei vertieft. Möglicherweise registrierte er, was ich hier tat, aber ein Gedicht zu stehlen, war nichts Schändliches, und er war so weit weg von mir, dass seine Hellsichtigkeit – falls er sie denn besaß, nicht alle Mahre waren damit gesegnet – durchaus getrübt oder gar nicht vorhanden sein konnte. Geräuschlos schlug ich die letzten beschriebenen Seiten um. Noten, Noten, Noten … keine Noten. Ein paar Zeilen auf Italienisch. Gedanken? Eine Art Tagebucheintrag? Es fiel mir wesentlich leichter, Italienisch zu übersetzen, wenn ich es schriftlich vor mir hatte; meine Französisch- und Lateinkenntnisse kamen mir dabei zugute. Trotz der Hitze und des Zeitdrucks arbeitete mein Gehirn verlässlich.
»Sie macht mich neugierig … Ich weiß, ich müsste das nicht, aber ich fühle mich in ihrer Gegenwart schüchtern. Schüchtern! Wie dumm! «
Oh mein Gott. Ich schlug das Buch lautlos zu und legte es zurück an seinen Platz. Schüchtern? Angelo und schüchtern? Und wen meinte er mit »sie«? Etwa – mich? Gab es Grund, in meiner Gegenwart schüchtern zu sein? Oder hatte ich das Wort falsch übersetzt? Bedeutete es noch etwas anderes? Jedenfalls klangen die Zeilen nicht nach »Oh, lecker, ein Menschenmädchen, das schnapp ich mir«. Falls er überhaupt mich meinte. Gestern noch hatte er für eine Betty gesungen – eine Betty, das musste eine Frau sein, kein Mädchen -; wie kam ich überhaupt auf die Idee, dass ich gemeint war? Trotzdem rührten mich diese Zeilen. Es war ein Geheimnis, das wir nun teilten, ohne dass er davon wusste.
»Entschuldige bitte.« Angelo war aufgestanden und kam auf mich zu. »Manchmal dauert es ein bisschen hierzulande. Schön, dass du da bist. Möchtest du etwas trinken?«
»Ich, äh …« Zweifelnd schaute ich ihn an, zweifelnd und ein wenig betört, aber vor allem zweifelnd.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte er, als er meinen suchenden Blick registrierte.
»Du … hm. Du siehst genauso aus wie gestern Abend! Du hast gar keine anderen Farben … also, ich meine …«
»Sollte ich das denn?«
Nein, das solltest du nicht, dachte ich, bitte nicht, bloß nichts anderes als dieses atemberaubende Türkis, das sich gerade einen lebhaften Wettstreit mit dem Poolwasser lieferte. Aber merkwürdig fand ich es schon. Haut, Haare und Augen schienen sich bei Sonne und Tageslicht nicht zu verändern. Allerdings war das bei François auch nicht der Fall gewesen …
»Ich hol dir etwas zu trinken«, nahm Angelo der Situation
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