Dornenkuss
noch machtlos, als ich aufbrach. Was mir am Anfang frevelhaft erschien – nämlich Colins und meine Abmachung zu brechen –, war jetzt ein notwendiger Schritt, den ich auf meinem Weg nicht auslassen konnte. Ich musste ihn gehen. Mir war nicht leicht ums Herz, aber hatte ich in den vergangenen Wochen nicht schon weitaus gefährlichere Situationen durchgestanden? Colin hatte von einer Immunität gesprochen, eine Immunität, die sich keiner von uns schlüssig erklären konnte, doch wenn es sie gab – und alles sah danach aus – hatte ich nichts zu befürchten. Sollte es keine Immunität geben, war da immer noch meine Intuition, die mich bislang nie im Stich gelassen hatte. Ich würde es spüren, ob ich dieses Haus betreten sollte oder nicht.
Als ich vergangenes Jahr in den Wald zu Colin gegangen war, war ich mir wesentlich lebensmüder vorgekommen als jetzt. Jetzt tat ich nur, was jeder getan hätte, der auf der Suche nach seinem Vater war.
Dennoch hatte ich Colin einen Zettel auf seinem Lager hinterlassen. »Verzeih mir, ich konnte nicht anders. « Mehr gab es nicht zu sagen, falls er früher nach Hause kam und meine Abwesenheit richtig deutete (was ich nicht glaubte, obwohl mir ein handfester Streit wegen meiner Einzelunternehmung lieber gewesen wäre als der Gedanke, dass er den ganzen Abend mit Charlotte verbrachte).
Die Tankstelle war zu Fuß problemlos zu erreichen, schon nach zehn Minuten war ich da. Was für ein Zufall, dass ganz in unserer Nähe ein Mahr hauste und wir bisher keine Notiz davon genommen hatten, nicht einmal Colin. Doch er hatte erwähnt, dass Angelo eine sehr schwache Aura habe. Wir hatten ihn nicht bemerken können.
Hinter mir jagten die Autos röhrend über die glühend heiße Straße, während gleichzeitig ein Zug vorbeiratterte, ein ohrenbetäubender Lärm, der sogar das Zirpen der Zikaden übertönte. Ich entdeckte den »schmalen Weg« sofort. Angelo hatte tiefgestapelt. Es war immerhin eine befahrbare Straße, zwar ungeteert, aber in ordentlichem Zustand. Ich ging gemächlich, um meine Kräfte zu schonen und auf mein Bauchgefühl zu lauschen. Ja, ich hatte ein Flirren in der Magengegend und ich hätte nichts essen können, doch blinde Panik oder eine Vorahnung besaß andere Qualitäten.
Als ich die knorrigen Olivenbäume erreichte, blieb ich ein letztes Mal stehen. Eigentlich war das unsinnig. Mahre konnten Beute von Weitem wittern. Wenn er mich ausrauben oder töten wollte, hatte er mich längst entdeckt und dann würde es auch nichts nützen, wenn ich umkehrte und floh. Er wäre schneller. Meine Neugierde, die das schlechte Gewissen Colin gegenüber längst übertrumpft hatte, trieb mich sowieso dem Haus entgegen, das, wie Angelo gesagt hatte, zwar alt war, aber nicht zerfallen. Eine mannshohe Mauer, bewachsen mit dunkelrot blühenden Blumen, schützte das Anwesen vor neugierigen Blicken, sodass ich nur die obere Etage erspähen konnte, doch was ich sah, gefiel mir, wenngleich die Fassade einen neuen Anstrich vertragen konnte. Dieses Haus hätte eine ideale Hollywoodkulisse abgegeben, für intelligente Romanzen und Selbstfindungsfilme, nicht für Horrorstreifen. Es hatte Charme. Ich musste grinsen, als ich erkannte, dass auf der Brüstung der Veranda ein großes buntes Garfield-Handtuch zum Trocknen lag, das sich behäbig im warmen Meereswind hob und senkte.
Das schmiedeeiserne Tor war unverschlossen, ich musste seine Flügel lediglich aufdrücken und rechnete damit, dass sie quietschen würden, doch sie gaben lautlos nach.
»Wow«, entfuhr es mir, als ich den Garten betreten hatte und mich umsah. »Nicht schlecht.« Nicht schlecht? Es war ein kleines Paradies. Ein Paradies nach meinem Geschmack, nicht unbedingt nach Allerweltsgeschmack, denn es herrschte zwangloses Chaos. Blumenkübel mit Palmen und Oleandern reihten sich ohne jegliche Ordnung aneinander oder bildeten kleine Grüppchen, welke Blätter lagen auf dem Boden und raschelten leise, wenn eine der sanften Böen durch den Garten strich, dazu das Knistern der Palmblätter und der Duft nach wildem Basilikum und Tomatensträuchern, die sich an den Mauern hochzogen, und – Chlor? Ja, Chlor.
Ich folgte dem Geruch, und nachdem ich zwei Bäume umrundet und eine Treppe erklommen hatte, erstreckte sich vor mir ein lang gezogener, gepflegter Pool; nichts Außergewöhnliches, kein Mosaik auf dem Grund und keine vergoldeten Wasserspeier, wie man es von den Schönen und Reichen kannte, aber immerhin ein Pool, der groß genug
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