Dornenkuss
nach meinem Gleichgewicht. Auch von ihm keine Berührung.
»Colin, ich musste! Es ging nicht anders! Ich hab den ganzen Mittag darüber nachgedacht, ich muss doch wissen, was mit meinem Vater geschehen ist …«
»Und? Weißt du es?« Seine Überheblichkeit war wie ätzender Schwefel, man wollte nicht mehr atmen.
»Nein. Nein, ich weiß nichts, aber damit hat sich die Sache auch erledigt, und wie du siehst, lebe ich noch und bin nicht beraubt worden. Alles gut.«
»Mit deinem Schutzengel möchte ich nicht tauschen, Ellie«, knurrte Colin strafend. »Nie wieder setzt du einen Schritt in diese Richtung, hast du das verstanden? Und jetzt steig ein.« Barsch deutete er auf den Wagen. Wie zur Bekräftigung polterten im Hänger Louis’ Hufe.
»Danke, ich laufe.«
»Du steigst ein!« Weil mir die Szene langsam unangenehm wurde, willigte ich schnaufend ein – nur deshalb und aus keinem anderen Grund. Colin behielt seine Hände bei sich, er würde mich nicht anrühren oder zwingen, das zu tun, was er wollte, das hatte er sich geschworen. Angst hatte ich nicht.
Als wir die Unterführung vor der Piano dell’Erba erreicht hatten, hielt er an. Der Schatten der Brücke dämpfte das eisige Grün seiner Augen ein wenig und ließ seine Haare einen dunkleren Ton annehmen.
»Wolltest du nicht zu Charlotte fahren?«
»Ja, das wollte ich, erst ausführlich jagen, dann zu ihr, aber ich hatte ein ungutes Gefühl im Bauch. Seltsam, oder?« Ich wich seinem arktischen Blick aus. »Jetzt kann ich es sowieso vergessen. Wieder wird sie mich verfluchen und meinen angeblichen Sohn dazu. Vielen Dank, Ellie.«
»Aber …«
»Kapierst du eigentlich nicht, was du da gerade angerichtet hast?«, fiel er mir ins Wort. »Ich hätte die Chance gehabt, etwas gutzumachen im Leben eines anderen Menschen! Stattdessen wird es noch schlimmer werden als vorher … wie immer …«
»Wieso denn? Du kannst doch noch fahren!«
»Kann ich nicht! Denn ab jetzt wirst du bei mir sein, wann immer es geht, ich nehme dich mit in den Wald und lasse dich keinen Schritt mehr allein gehen!«, wütete Colin. »Du bist offenbar nicht in der Lage, auf dich aufzupassen!«
Mit der Faust schlug er auf das Lenkrad. Sofort bildete sich ein Riss in dem schwarzen Kunststoff. Er würde es zertrümmern, wenn er so weitermachte. Trotzdem musste ich widersprechen.
»Colin, hör auf, mich wie ein kleines Kind zu behandeln! Ich bin erwachsen! Fang nicht damit an, mich zu kontrollieren, das vertrage ich nicht. Das verträgt meine Liebe nicht. Ich möchte nicht in deiner Höhle sitzen, ohne sehen und beeinflussen zu können, was sich um mich herum abspielt. Ich kann alles tolerieren, alles, deinen Hunger, deine Abwesenheit, deine kalte Haut, ich kann ertragen, dass ich dich jedes Mal, wenn wir Sex haben, fesseln muss und du anschließend abhaust, ich kann die Abweisung der anderen Menschen ertragen – aber ich kann es nicht ertragen, wenn du mir meine Freiheit nimmst! Bitte lass mir meine Freiheit!«
Colin fluchte unflätig auf Gälisch, stieß die Tür auf und ging nach draußen, um seinen Schädel brutal gegen die Steinwand der Unterführung zu schlagen. Ich zuckte zusammen. Er machte mir Angst. Angst um ihn, nicht um mich. Er wollte sich zur Besinnung bringen, sich wehtun, ohne dass es je glücken konnte. Hupend und unter lautem Radioplärren knatterte der Obstmann an uns vorbei. Es war einer dieser dummen, unpassenden Gedanken, die aus dem Nichts auftauchten, wenn niemand sie brauchte, aber mir fiel ein, dass ich noch eine Melone und Nektarinen kaufen wollte. Es schien mir dringender als alles andere, dieses Vorhaben umzusetzen, doch mir war zu übel, um aufzustehen.
Nach einigen Minuten, in denen der Obsthändler unbekümmert schreiend seine Gaben anpries, stieg Colin wieder in den Wagen.
»Um unserer Liebe willen …«, begann er mit rauer Stimme. Er hörte sich uralt an. »Um unserer Liebe willen lasse ich dir deine Freiheit und bete, dass ich es nie bereuen werde. Tu, was du nicht lassen kannst.«
»Ich will doch gar nichts mehr tun«, erwiderte ich. Auch meine Stimme war rau. »Nur ein bisschen leben, ohne mir über alles und jeden Gedanken zu machen, ohne Gefängnisse. Ein paar Tage. Das mit Papa hat sich erst einmal sowieso erledigt.«
»Merkst du, dass sie immer kürzer werden, Lassie? Die Momente, in denen wir beisammen sein können? Seitdem sie tot ist, ist es, als trage ich ihre Gier in mir.« Gehetzt huschten seine Augen über das trockene Gebüsch neben
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