Dornenkuss
der Siesta, wenn die anderen schliefen. Sie wussten nichts von meinen Überlegungen. Auch Colin hatte ich nicht einweihen können, er war schon seit Tagen in der Sila unterwegs, aber ich fürchtete, dass er es mir sowieso zu verbieten versucht hätte. Paul hingegen hätte es sicher gutgetan, aktiv zu werden. Doch er wäre nur mit Gianna mitgefahren (Gianna ließ ihn keinen Schritt mehr ohne sie machen, sie klammerte wie eine Klette) und eine Person, die meine Nähe mied, wollte ich nicht im Auto haben. Es verunsicherte mich. Hier im Haus oder am Strand konnte ich Giannas zwanghafte Abgrenzung einigermaßen akzeptieren, weil genügend Ausweichmöglichkeiten bestanden, aber selbst der geräumige Volvo war zu klein, um darüber hinwegzusehen. Wir atmeten die gleiche Luft, befanden uns nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Es würde mich nervös machen, wenn Gianna dabei war, und der Gedanke an das, was ich vorhatte, machte mich ohnehin nervös genug.
Deshalb entschied ich mich, erst einmal so zu tun, als sei heute ein ganz normaler Urlaubstag, bereitete das Frühstück für die anderen zu – ich selbst beschränkte mich auf Kaffee und Obst – und ging hinunter ans Meer, um mich abzulenken. Es gelang mir nur, wenn ich mich mit offenen Augen zurück in meine Träume versetzte oder weit hinausschwamm, und als ich endlich aufbrach – der Volvo parkte noch vom Einkaufen auf der Straße, sodass ich niemanden wecken würde –, zog sich mein Bauch unruhig zusammen. Meine erste Fahrt allein in diesem Land stand mir bevor. Ich hatte nur eine Karte, kein Navigationssystem; das hatte Paul in den kleinen Safe in seinem Schlafzimmer gesperrt und es hätte ihn misstrauisch gemacht, wenn ich ihn nach der Zahlenkombination gefragt hätte. Immerhin hatte ich es geschafft, mich über mein Handy ins Internet einzuloggen und Google Maps zu befragen. Ein sündhaft teures Unterfangen, doch am Geld sollte es nicht scheitern.
Es scheiterte an der Verbindung. Das hätte ich mir eigentlich denken können, dachte ich fluchend, als nach der dritten steilen Kurve den Berg hinauf das Internet ausfiel und mein Handy piepsend verkündete, dass es kein Netz mehr fand. Und nun? Umkehren? Nein, dazu war ich nicht weit genug gekommen, das Meer war noch zu nahe und der Markierungspunkt viel zu weit weg. So schnell durfte ich nicht aufgeben. Es war doch ganz einfach: Solange ich das Meer sah, würde ich auch zurückfinden, irgendwie. Ich würde so weit fahren, bis es aus meinem Blickfeld verschwand. Dann konnte ich immer noch umkehren. Bis zu diesem Punkt war ich auf der sicheren Seite.
Aber ich hatte bald keine Muße mehr, mich nach dem Meer zu orientieren. Während die Außentemperatur sank und die Temperatur im Wagen anstieg – ein Zusammenhang, den ich mir ganz und gar nicht erklären konnte –, entwickelte die Straße sich zu einer lebensgefährlichen Geröllpiste, ohne seitliche Befestigungen und Mittelstreifen und oft so schmal, dass ich mich fragte, wie ich einem entgegenkommenden Fahrzeug außerhalb der kleinen Buchten, die ab und zu in den Fels gehauen worden waren, ausweichen sollte. Immer wieder behinderten dicke Gesteinsbrocken das Durchkommen. Wenn ich sie umrundete, kam ich dem Abgrund neben mir gefährlich nahe oder musste den Außenspiegel einklappen, damit ich nicht die Felsen rammte. Offenbar wurde die Gegend im Herbst und Frühling von Erdrutschen heimgesucht. An manchen Stellen war die Straße zum Hang hin einfach abgebrochen, sodass ich all meinen Mut aufbringen musste, um weiterzufahren. Eine andere Möglichkeit hatte ich sowieso nicht; zum Wenden war kein Platz, und sobald ich es geschafft hatte, meine Angst vor einem Absturz hinunterzuwürgen und die schmalen Passagen zu überwinden, beflügelte mich das so sehr, dass ich weiterfahren wollte.
Dörfer gab es hier oben nur noch vereinzelt und sie sahen nicht einladend aus. Rinder dösten wiederkäuend im Schatten am Rande der Straße, manchmal auch mitten auf dem löchrigen Asphalt, und glotzten mich dumpf an, wenn ich sie vergeblich wegzuhupen versuchte. Der Wald wurde dichter. Ich konnte nicht sagen, ob es jener Wald war, in den Colin mich entführt hatte; ich erkannte nichts wieder. Die Tannen erinnerten mich beinahe an den Schwarzwald. Sie wuchsen Ehrfurcht gebietend finster in die Höhe und Breite, aber der Boden unter ihnen war trocken. Ein Funke würde genügen, um sie in Brand zu setzen. Trotzdem meinte ich, an einer Kurve eine Quelle sprudeln zu
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