Dornenkuss
hören.
Menschen begegnete ich kaum. Einmal tauchte wie eine Halluzination ein alter Mann vor mir auf, der am Wegesrand auf einem Stein saß, seine Arme auf den Stock gestützt, eine staubige blaue Mütze auf dem Kopf. Was tat er hier? Bewachte er die Straße? Beinahe sah es so aus und ich erwartete schon, dass er mich anhalten und zurückschicken würde. Ich entschied mich für einen freundlichen Gruß und wider Erwarten hellte sich sein Gesicht auf, als er mich erblickte, und er hob seine knorrige Hand, um mein Ciao winkend zu erwidern. Doch über den Rückspiegel sah ich, wie er sofort wieder in seine abwartende Starre verfiel, sobald ich ihn hinter mir gelassen hatte.
Auf meine Karte musste ich nicht mehr schauen; ich wusste, dass ich die Orientierung verloren hatte, das war ja nichts Neues für mich. Ich regte mich nicht einmal darüber auf. So lief das eben, wenn Ellie Sturm auf eigene Faust etwas mit dem Auto unternahm. Dumm nur, dass es hier weder Tiefgaragen noch Taxis gab.
Trotzdem fädelte ich mich immer weiter die Berge hinauf, bis die Außentemperatur nur noch bei 28 Grad lag, zehn Grad weniger als bei meinem Aufbruch unten am Meer. Dafür wanderte der Zeiger der Motorentemperaturanzeige kontinuierlich nach oben in den roten Bereich, was ich nicht verstand, denn wie sollte der Motor überhitzen, wenn es doch immer kühler wurde? Ich musste zwei weitere Kühe umrunden, bis ich erneut mit zusammengekniffenen Augen auf das Armaturenbrett blinzeln konnte. »Temperature high«, leuchtete es mir nun in roten Buchstaben entgegen. Wie hilfreich. Konnte das blöde Auto mir nicht auch höflicherweise verraten, warum das so war?
Sollte ich sicherheitshalber den Motor ausschalten und den Wagen abkühlen lassen? Aber was, wenn er dann nicht mehr ansprang? Ich hatte keine Ahnung, wo sich das nächste Dorf befand und ob ich den Menschen dort überhaupt begreiflich machen konnte, was mein Problem war. Mein Italienisch hatte sich verbessert, sehr sogar, aber dieser Sachverhalt würde mein Vokabular sprengen.
Also fuhr ich mit verkrampftem Nacken weiter, das Blinken ignorierend, bis plötzlich weißer Qualm aus der Motorhaube quoll, nicht nur ein bisschen, sondern ein kleines Höllenfeuer. Sofort dachte ich an explodierende Autos und bis zur Unkenntlichkeit verkohlte Insassen, parkte den Wagen am Straßenrand, schaltete den Motor aus und flüchtete. Erst nach ein paar Metern, die ich mit geducktem Kopf und den Händen auf den Ohren zurückgelegt hatte, wagte ich es, mich umzudrehen. Immer noch dampfte der Volvo vor sich hin, wie ein alter Drache, der gerade erst wach wurde, um dann zu Höchstform aufzulaufen und alles um sich herum mit seinem glühenden Atem zu versengen. Ich musste hier weg. Entweder explodierte der Wagen tatsächlich oder aber der Spuk war vorbei, wenn ich nach einer halben Stunde zu ihm zurückkehrte, und ich konnte meine Fahrt fortsetzen. Wenn sich etwas aufheizte, konnte es sich theoretisch auch wieder abkühlen. Darauf musste ich vertrauen.
Ich wunderte mich ein wenig darüber, dass ich nicht heulte oder zitterte, wenigstens eine leichte Besorgnis empfand, doch rational betrachtet hatte ich keinen Grund dazu. Ja, irgendetwas stimmte mit dem Wagen nicht und ich wusste nicht, wo ich war, aber es gab keine wilden Tiere hier oben und ich stand auch nicht kurz davor, zu verdursten oder zu verhungern. Ich fühlte mich sogar kräftig genug, um die Straße weiter hinaufzugehen, und das tat ich auch, nur weg von dem dampfenden Ungeheuer hinter mir. Nach der nächsten Kurve entdeckte ich ein verwittertes Schild, das kaum mehr lesbar war und auf eine noch schmalere Geröllpiste deutete. Ein Wegweiser zu einem Dorf? Zu Menschen, die mir helfen konnten – oder vielleicht sogar dem Ort, den Papa gemeint hatte? Zwei gute Gründe, dem Schild zu folgen.
Schon nach wenigen Metern hatte die eigentümliche Waldwelt Kalabriens mich verschluckt. Dicht standen die Bäume hier nicht, dazu war es zu felsig; nur die stärksten hatten ihre Wurzeln in dem kargen Grund verankern können. Ein schmaler Trampelpfad schlängelte sich hinauf auf eine gelbliche Wiese – frisches Grün fand sich hier kaum mehr –, auf der verlumpt wirkende Ziegen grasten. Vom Ziegenhirten war weit und breit nichts zu sehen. Vielleicht waren es sogar wild lebende Ziegen. Ich erfreute mich eine kurze Verschnaufpause lang an ihrer Gelassenheit und ihrem herben Geruch, dann lief ich weiter.
Bei fast jedem meiner Schritte raschelte es neben der
Weitere Kostenlose Bücher