Dornenkuss
der Unterführung. Dabei lebte hier gewiss kein Wild. Es war ein purer Reflex. Ich spürte, wie all seine Gedanken von mir wegdrifteten und sein Hunger machtvoll aufbegehrte. Wenn wir länger warteten, würde er sich gegen mich richten. »Ich muss weg, Ellie. Ich muss wieder gehen …«
»Dann geh, Colin. Ich verstehe es.« Ich verstand es, obwohl mein Bauch rebellierte, es nicht wahrhaben wollte. Es konnte doch nicht alles umsonst gewesen sein! Hoffentlich würde er endlich ein Rudel Wölfe finden und einige Tage lang satt bleiben können.
Ich wagte es nicht, ihn zu küssen; hier, in seinem Wagen, musste ich mehr um mein Heil bangen als gerade eben in Angelos Revier. Ich stieg wortlos aus und lief zu Fuß zu unserem Haus zurück, während Colin den Wagen wendete und hoch in die Sila fuhr, um seinen Hunger zu stillen, während Charlotte irgendwo da draußen in einer Bar saß und vergeblich auf ihn wartete. Eine aberwitzige Sekunde lang überlegte ich, zu ihr zu fahren und ihr alles zu erzählen. Doch was nützte es? Nichts. Mir selbst half es nur, Colin zu verstehen, doch an seinem zehrenden Hunger änderte es nichts. Er überschattete alles.
Nachdem die Sonne untergegangen war, setzte ich mich neben das Duschbecken in den Garten und zog die gestohlene Seite aus meinem Ausschnitt, um Angelos Zeilen im schwindenden Licht des Tages zu lesen. Ja, es war ein Gedicht, ich hatte mich nicht getäuscht – Mondnacht von Eichendorff. Ich kannte nur den Taugenichts, wir hatten ihn in der Schule durchgenommen und ich war mehr genervt als begeistert gewesen, doch dieses Gedicht war klarer, strukturierter, kunstvoller. Wenn man es hatte, brauchte man kein Buch mehr. Ich las es immer wieder, bis die Worte ihren festen, unverrückbaren Platz in meinem Inneren gefunden hatten.
»Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus. «
In dieser Nacht überwand ich meine Scheu und traute mich zum ersten Mal, meinem Drang nachzugeben und den Skorpion zu berühren. Er fühlte sich anders an, als ich erwartet hatte, glatt, warm und doch widerspenstig, aber er duldete mein zartes Streicheln und blieb reglos sitzen, bis ich meine Finger wieder von ihm löste. Dann bewegte er kurz seine Scheren, ein verschworener Gruß. Er hatte mich verstanden.
Stolz, meine Furcht überwunden zu haben, ohne dass mir etwas zugestoßen war, sank ich in einen wohltuenden Schlaf, der mir von der ersten Sekunde an schöne, wilde Träume schenkte.
HIGH HOPES
»Mehr«, flüsterte ich, nachdem die Helligkeit gesiegt und mich aus dem Reich der Nacht vertrieben hatte. »Bitte mehr davon …« Ich lächelte immer noch, so wie ich es den ganzen Traum über getan hatte. Ein endlos langer Traum? Oder mehrere Träume, die ineinander übergegangen waren? Ich wusste es nicht, doch es war unerheblich, denn eine logische Handlung hatte er nicht gehabt; die brauchte er gar nicht. Es war ums Erleben gegangen, nicht ums Handeln. Ich war am Meer gewesen. Am Meer des Südens. Gleißende Sonne, eine blaue Himmelskuppel, schmeichelnder Wind, das Wasser warm und weich, weiße Schaumkrönchen auf den Wellen … Ein Traum, der mich schon fast mein ganzes Leben begleitete und mit ungeahnten Glücksgefühlen erfüllte, während ich in ihm versank, und umso brutaler mit der grauen Realität konfrontierte, sobald er mich wieder ausspuckte. Noch nie war er so klar und echt gewesen wie in dieser Nacht.
Ich hätte schreien können vor Freude, als ich die Augen öffnete und das Flirren des Lichts hinter den Läden mich daran erinnerte, dass es heute gar keine Konfrontation mit der Wirklichkeit geben würde. Ich war im Süden. All das, worin ich mich eben noch staunend bewegt hatte, lag vor meinem Fenster. Ich musste nur aufstehen, die Läden öffnen und hinunter ans Meer laufen. Nie waren Traum und Realität sich näher gewesen als in diesen erquickenden Sekunden. Ich würde nicht enttäuscht werden, nicht einmal von der Leere und Ödnis des hiesigen Strandes. Auch in meinen Träumen hatte es keine Palmen, Bars oder feinen, hellen Korallensand gegeben. Das brauchte es gar nicht.
Die Freiheit, die ich darin spürte, war es, die pure Energie durch meine Adern strömen ließ, gepaart mit dem sicheren Wissen, alles überstehen zu können, was das Leben für mich bereithielt, wenn ich nur hier am Wasser blieb und mein Gesicht der Sonne zuwendete. Vorbei waren die düsteren Träume vom Nordmeer, die mich im Winter geplagt hatten und in
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