Dornenkuss
denen ich immer wieder von der eisigen Kälte hinabgezogen worden war.
Die Sonne war da, sie schien. Ich konnte es an den hellen Streifen erkennen, die sich durch die Ritzen der Läden auf die Decke malten, so zuverlässig und treu. Es würde ein schöner Tag werden. Selbst wenn Wolken aufziehen würden, wie sie es während der Siesta manchmal taten: Bis zum Abend würden sie wieder verschwunden sein. Es würde ohnehin immerzu warm bleiben.
Wie habe ich nur so blind sein können?, fragte ich mich, als ich aufstand und die Läden aufstieß, um mich so intensiv wie nie zuvor am Duft des Meeres und des verdorrenden Grüns zu erfreuen. Kopfschüttelnd dachte ich an meine ersten Tage in Italien zurück. An allem hatte ich etwas zu bemängeln und auszusetzen gehabt. Dieses Land war mir zu laut, zu schmutzig, zu hektisch, zu karg gewesen. Ja, Kalabrien war karg, aber war das etwas Schlechtes? Es war eine Folge der Sonne und die war es doch, die ich jahrelang vermisst hatte. Keine Chance zu frieren. Jeden Tag nackte Füße. Kaum Stoff auf der Haut, keinerlei Ballast, keine unnötigen Pflichten, weil die Menschen sich trotz ihrer sympathischen Eile Zeit ließen. Zeit zu leben. Nur in der Kälte wurde man geschäftig.
Ich hätte viel eher darin eintauchen sollen, denn möglicherweise hatte ich bald keine Gelegenheit mehr dazu. Ich ärgerte mich über mich selbst; ich hatte mich gegen all das hier gespreizt und über meinem geballten Unmut nicht begriffen, was mir geschenkt wurde. Doch jetzt wusste ich es und es würde mir hoffentlich die nötige Kraft geben, mich meinem heutigen Unterfangen zu stellen. Denn heute war ein Tag der Tat, nicht des Müßiggangs. Es war mein allerletzter Versuch, etwas an meinem Schicksal zu ändern.
Die anderen hatten gedrängt, endlich etwas zu unternehmen oder aber abzureisen. Nun sei schon eine Woche vergangen, was sollten wir hier noch? Tessa war tot, doch von meinem Vater keine Spur. Ich fühlte mich von ihnen unter Druck gesetzt. Tillmann war unangenehmerweise dazu übergegangen, mich in kühler Schweigsamkeit zu beobachten, anstatt mit mir zu reden – ich hätte niemals gedacht, dass er so nachtragend sein konnte –, und Pauls Verständnis für mich schwand mit jedem neuen Tag. In guten Momenten wollte er gemeinsam mit mir losziehen, um Papa zu suchen, doch das wiederum war Gianna nicht durchdacht genug, sie bremste ihn aus, während Paul langsam daran zugrunde ging, dass er offenbar immer noch zur Passivität verdammt war.
Ich wollte ihnen etwas bieten, was sie veranlassen würde, mir mehr Zeit zu geben. Irgendein Indiz, eine Spur, ein Verdachtsmoment. Für Colin brauchten wir diese Zeit sowieso. Er musste immer länger wegbleiben, um satt zu werden. Wir würden warten müssen, um mit ihm über Papa sprechen zu können, und wenn ich bis dahin schon etwas herausgefunden hatte, würden die anderen sich darauf einlassen. Sie mussten es!
So hatte ich gestern Abend Papas Mahrkarte aus dem Seitenfach meines Koffers gezogen und sie ein letztes Mal gründlich unter die Lupe genommen. Sie war inzwischen zerknittert, doch das Kreuz in Italien hatte Papa so deutlich gesetzt, dass ich gar nicht erst danach suchen musste. Dann nahm ich eine größere Straßenkarte Kalabriens zur Hand. Vielleicht meinte das Kreuz nicht nur eine Region, sondern einen ganz konkreten Ort – ein Dorf oder Städtchen, das in der Europakarte nicht verzeichnet war, wohl aber auf unserer Straßenkarte.
Doch mein Zeigefinger strandete immer wieder zwischen mehreren Dörfern und Städten in den Bergen oberhalb von Calopezzati. Also im Nirgendwo – vorausgesetzt, mein Verfahren war richtig. Auch daran zweifelte ich, schließlich war die Europakarte eher klein und ungenau. Doch die Hoffnung, etwas herauszufinden und den anderen beweisen zu können, dass ich nichts unversucht ließ, trieb mich dazu, diesen Punkt wenigstens anzusteuern.
Paul und Gianna hatten gestern Abend bereits damit gedroht, die Zelte abzubrechen und heimzufahren. Ich wollte hier nicht weg, noch nicht. Es war mein erster richtiger Sommer, den durften sie mir nicht nehmen, egal, wie bejammernswert er bisher verlaufen war. Ja, auch mich belastete die Ausweglosigkeit der Situation, wenn ich darüber nachdachte. Dieses Land war viel größer und weitschweifiger, als ich angenommen hatte. Mein Vater konnte überall und nirgendwo sein. Doch es konnte alles noch gut werden. Mein Entschluss jedenfalls war gefasst.
Ich wollte ganz alleine aufbrechen, während
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