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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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Geröllpiste im Gras; wahrscheinlich Schlangen oder größere Insekten. Das Zirpen der Grillen klang weniger sägend und laut als unten am Meer, doch es begleitete mich auch hier, für mich inzwischen die Musik der Stille. Als Lärm empfand ich es schon lange nicht mehr.
    Ich blieb schwer atmend stehen, als das besagte Dorf endlich vor mir auftauchte, wie die meisten Ortschaften an einen Hang geschmiegt, verschachtelt und ohne Abstand zwischen den Häusern, aber vollkommen verlassen. Ich sah es schon beim ersten Blick. Hier wohnte niemand mehr; es war ein Geisterdorf. Kein einziger Mensch atmete, nicht einmal Hunde und Katzen, es gab nur den Gesang der Zikaden und das Rauschen des Windes in den Tannen, die sich wie Mahnwachen hinter den Ruinen erhoben.
    Was mochte die Menschen dazu bewogen haben, ihr Zuhause zu verlassen? Was stimmte hier nicht? Waren sie ausgewandert, um ein besseres Leben zu suchen? Die Häuser sahen primitiv aus, manche sogar schäbig und heruntergekommen. Doch das allein konnte nicht der Grund gewesen sein. Dieses Dorf machte auf mich den Eindruck, als sei ihm schlagartig alles Leben entzogen worden. Nun wehrte es sich dagegen. Nichts bewegte sich mehr, keine Stimmen erhoben sich, keine Schritte hallten durch die engen Gassen, doch die Seelen der Menschen krallten sich noch in die verfallenden Mauern und weigerten sich zu gehen. Ängstliche, ruhelose Seelen.
    Wer hatte sie vertreiben wollen?
    Der Wind strich durch die Ritzen und Fugen des Hauses neben mir, in einem vielfachen, hohlen Gesang, der mir einen Schauder über die Arme rieseln und mich zugleich schläfrig werden ließ. Waren es die Mahre gewesen, die diesen Ort ausgelöscht hatten? Um ihn dann selbst zu besetzen? Waren sie über ihn hergefallen wie Heuschrecken, nachts, als alle schliefen, und die Menschen waren anschließend geflohen, ohne zu verstehen, warum?
    Mit leichten, schleichenden Schritten lief ich die einstige Hauptstraße entlang und der Kirche des Dorfes entgegen. Rechts von mir tauchte eine alte Metzgerei auf, »Macelleria« stand in verblassenden blauen Buchstaben auf der bröckelnden Wand. Die Fenster der meisten Häuser waren verrammelt, nicht mit Holz, sondern mit Metallplatten. Ein Versuch, sich vor den nächtlichen Eindringlingen zu schützen? Kein Mahr würde sich von Metallplatten abhalten lassen, doch irgendetwas mussten die Menschen gefürchtet haben.
    Vor der Kirche blieb ich stehen, um zu Atem zu kommen, denn die Luft kam mir dünn und sauerstoffarm vor, obwohl es hier in den Bergen viel kühler war als unten in unserer Straße. Das Meer konnte ich längst nicht mehr sehen. Kein Fixpunkt mehr. Nur dieses Dorf und seine Kirche, die darum bat, dass ich eintrat. Ihre verrottenden Orgelpfeifen klagten leise, als der Wind durch die Löcher im Dach fuhr und das Gras neben meinen Füßen zum Knistern brachte. Der Wind oder Schlangen.
    Ich ängstigte mich vor keinem von beiden und schritt zur Tür. Sie war tonnenschwer, ebenfalls mit Eisen beschlagen und armdick. Ich musste mich gegen sie stemmen, um sie öffnen zu können. Drinnen lag der Staub in Schlieren auf dem Steinboden. Bänke waren umgestoßen worden und teilweise sogar zerbrochen, als sei eine Armee in die Kirche eingefallen, um auch jene zu holen, die den Schutz Gottes gesucht hatten.
    Wieder tönte die Orgel, dieses Mal ein fast wohlklingender Ackord, traurig, aber auch ein wenig sehnsüchtig. Ich schaute zu ihr hoch. Die Empore war vollständig, obwohl die Stufen hinauf bereits zerbröckelten. Tiefe Risse zogen sich durch die Wände des gesamten Gebäudes, doch ich war leicht, was sollte ich ihm anhaben? Ich hielt mich nicht einmal fest, als ich nach oben kletterte, während die Stufen unter mir bedrohlich knirschten und Steinchen in dünnen Lawinen hinab auf den Kirchenboden rieselten.
    Die Orgelklaviatur schien noch intakt zu sein, auch die Pedale sahen unbeschädigt aus. Nur die Pfeifen hatten sich aus der Wand gelöst, ragten kreuz und quer in die Luft. Sie erinnerten mich an einen Dornenkranz. Ehrfurchtsvoll legte ich meine Hand auf die Tasten. Ob hier jemand gespielt hatte, als es geschah?
    Ich konnte nicht anders, ich musste sie hinunterdrücken, nur einen Akkord erklingen lassen, damit diese Mauern wieder neues Leben fanden und ich all die Seelen herbeilocken konnte, sie sollten sich mir zeigen und mir endlich sagen, was geschehen war … Wie ferngesteuert schlug ich meine gespreizten Finger auf die Tasten.
    Die Orgelpfeifen begannen augenblicklich

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