Dornenkuss
Tillmann und ich in einem Raum leben und schlafen würden; so wie letzte Nacht, so wie im Schwitzzelt und vor allem so wie in den Wochen in Hamburg. Wie sollte es auch anders sein?
Jetzt erkannte ich, dass ich die Einzige war, die das dachte. Lag es an meinem Verhalten gestern Abend? Oder war ich ihm im Schwitzzealt zu nahe gekommen? Ich war ihm zu anstrengend, das musste es sein. Mir schoss das Blut in den Kopf und ich bekam kein Wort mehr heraus. Doch vor allem erfüllte mich Zorn, ein mit Tränen vermischter, schamerfüllter Zorn. Ich versuchte, eine stolze Haltung zu wahren, als ich mich aufsetzte. Es war sehr schwierig, stolz zu wirken, wenn man so verletzt, verschwitzt und zerzaust war wie ich.
»Wie soll ich das denn bitte nicht persönlich nehmen?« Oh Gott, nun fing ich auch noch an zu betteln.
»Weil es nicht persönlich gemeint ist. Ich möchte ein bisschen Privatsphäre haben, ist das zu viel verlangt? Wir waren in den vergangenen Monaten ständig zusammen, haben in Hamburg in diesem engen Zimmer gehaust, Tag und Nacht. Ich muss auch mal atmen können.«
»So. Du kannst in meiner Gegenwart also nicht atmen. Gut zu wissen. Dann viel Spaß beim Onanieren.«
Tillmann erwiderte nichts und ich ersparte es mir, in sein Gesicht zu blicken, denn ein dreistes Grinsen à la Schütz junior hätte ich nicht verkraftet. Mit eingezogenem Kopf umrundete ich das Bett, um mich nicht an der Schräge zu stoßen, und hielt mich mit der Hand am Geländer fest, als ich die Treppe hinunterstieg. Tillmann Schütz, du bist ein Riesenarsch, dachte ich wutentbrannt. Keinerlei Taktgefühl, keine Rücksichtnahme, keinen Instinkt für die Emotionen anderer.
Das Blut wogte immer noch klopfend durch meine Wangen, als ich mir »mein« Zimmer aussuchte. Zwei standen noch zur Wahl: ein dunkler, muffiger Salon mit einem Klappbett und einem lang gezogenen Tisch samt Stühlen und mächtiger Vitrine und ein weiß getünchtes Zimmer, in dem lediglich ein Schrank und ein Bett standen. Wie überall im Haus war der Boden mit kühlenden Terrakottafliesen ausgelegt. Gegenüber dem Bett führten zwei verglaste Flügeltüren zur überdachten Terrasse hinaus. Ich öffnete sie und stieß die Fensterläden zur Seite. Direkt vor mir stand ein runder Tisch mit Plastikstühlen; die passenden Polster stapelten sich auf dem Bett hinter mir. Im Salon wollte ich nicht nächtigen, er war mir zu düster und er gruselte mich. Hier aber befand ich mich auf dem Präsentierteller. Tessa musste nur hereinspazieren, mich vom Bett auflesen und aussaugen. Denn bei geschlossenen Türen würde ich in der Hitze eingehen. Eine Klimaanlage hatte offensichtlich nicht mehr in Enzos Budget gepasst. Ich würde quasi auf der Straße schlafen.
Wie in Trance blieb ich auf der Terrasse stehen und betrachtete das Spiel der Blätter in den Silberpappeln, die sich direkt neben der Umzäunung des Hauses erhoben. Ja, es war ein leichter, salziger Wind aufgekommen. Unauffällig linste ich zum Nachbargrundstück hinüber. Andrea hatte seine Duschorgie beendet und marschierte mit einem Badetuch über dem Rücken und Adiletten an seinen verbrannten Füßen seinen Gartenweg entlang.
»Buona sera!«, rief er laut und winkte mir fröhlich zu. »E benvenuti in Italia!«
Ich hob ebenfalls meine Hand und versuchte mich an einem unmelodischen »Buona sera«, obwohl die Sonne noch hoch am Himmel stand. Dann schob ich die Läden wieder zu, befreite mich aus meinen feuchten Klamotten, zog meinen Bikini an und warf ein dünnes Strandkleid über – und das nur, weil ich es als unpassend empfand, nur im Bikini durch das Haus zu laufen. Eigentlich wäre pure Nacktheit die passende Variante für die unmenschliche Hitze gewesen. Ich nahm mir ein Kissen von meinem Bett, legte es auf die Steinstufen der Treppe, die zum Vorgarten führte – nicht um mein Hinterteil vor Kälte zu schützen, sondern um Brandwunden zu vermeiden –, und setzte mich. Ermattet stützte ich meine Arme auf die Knie und legte meinen Kopf auf ihnen ab.
Ich hörte, wie sich surrend ein paar Fahrräder näherten, abbremsten und wieder weiterfuhren. Ja, die Kinder hatten was zu gucken an diesem Nachmittag. Ich war Mittelpunkt eines großen italienischen Panoptikums geworden, die unverhoffte Exotin in der Manege der Sommerfrische.
»Hier, trink mal was, du alte Hexe.« Gianna setzte sich neben mich und reichte mir ein Glas Wasser, in der eine Brausetablette sprudelnd an die Oberfläche stieg. »Vitamine und Mineralien.
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