Dornenliebe
um jeden Punkt gerungen, mit Erfolg. Als Belohnung hatten die Eltern ihr den Urlaub in Portugal spendiert. Die letzten Ferien mit Thore.
»Das mit deinem Bruder tut mir wahnsinnig leid«, sagt Jaron und greift über die Tischplatte nach Lunas Hand. »Ich glaube, das habe ich dir die ganze Zeit noch nicht richtig sagen können. Thore muss ein toller Mensch gewesen sein.«
»Ich bin sicher, er hätte dich gemocht«, antwortet sie. »Sehr sogar. Ihr hättet euch bestimmt super verstanden. Obwohl er eher so ein leichtsinniger Draufgänger war, hatte er doch ein bisschen Ähnlichkeit mit dir - ihr seid beide gute Zuhörer, die nicht ständig recht haben müssen und jeden anderen kleinmachen, um selber besser dazustehen. Und weißt du was? Das habe ich die ganze Zeit schon gespürt. Natürlich habe ich mir auch vorgestellt, wie es gewesen wäre, wenn Falk und Thore sich begegnet wären, und es hat einfach nicht gepasst. Mein Bruder und er wären nie Freunde geworden, aus gutem Grund. Viel zu lange habe ich meine eigene innere Stimme verdrängt.«
»Nicht zu lange«, versichert Jaron. »Du hast auf sie gehört, Luna. Sonst wärst du nicht geflohen.«
Luna nickt, gleichzeitig jedoch sackt sie in ihrem Stuhl zusammen.
»Geflohen,ja«, sagt sie. »Aber ohne alles. Ich habe kein Geld bei mir, keinen Ausweis, kein Handy - nicht einmal das von Teresa. Keinen Schlüssel zu meiner Wohnung, nicht einmal Waschzeug und auch nicht die Sachen für die Uni. Da kann ich im Moment zwar sowieso nicht hin, aber es wäre schön, wenn ich zu Hause wenigstens ein bisschen was lernen könnte.«
»Das kriegen wir schon hin. Wenn man seine Geldbörse mit allen Papieren verloren hat, hat man auch viele Rennereien, aber man kann alles neu beantragen. Doch darum können wir uns später kümmern, Luna. Fürs Erste ist es nur wichtig, dass du untergetaucht bist. Dass Falk dich nicht finden kann. Geld kann ich dir leihen, ich bin zwar kein Dagobert Duck, aber irgendwie kratzen wir schon etwas zusammen. Ich kann an der Uni ein paar Leute fragen. Irgendwer ist da immer pleite und schnorrt die anderen an, das fällt gar nicht auf.« Er steht auf, geht um den Tisch herum und gibt Luna einen Kuss. »Mir ist eingefallen, ich muss doch für ein paar Stunden an die Uni, weil ich heute eine Klausur schreiben muss, und so kann ich dort wenigstens mit ein paar Leuten reden, die uns vielleicht weiterhelfen können. Meinst du, du kommst bis mittags allein klar?«
Luna nickt, auch wenn ihr nicht wohl dabei zumute ist.
»Gut. Ich komme zurück, so schnell ich kann. Warte«, er geht hinüber ins Zimmer und kommt mit einem schnurlosen Telefon und einem kleinen Adressbuch zurück. »Ich schreibe mir jetzt die Festnetznummer von hier ab und dir meine Handynummer auf. So können wir in Verbindung bleiben und du musst keine Angst haben.
Falls ich anrufe, lasse ich das Telefon zweimal klingeln, lege dann auf und wähle noch einmal. So weißt du, dass ich es bin. Die Anrufe für Herrn Alizadeh würde ich lieber nicht entgegennehmen, wer weiß, ob es ihm recht ist, dass in seiner Abwesenheit hier jemand wohnt.«
Als Luna allein ist, räumt sie den Tisch ab und säubert ihn, stellt die Lebensmittel in den Kühlschrank, spült das Geschirr, schüttelt in dem einzigen Zimmer die Decke auf, die sie mit Jaron geteilt hat, ebenso die beiden Kissen, er hat auf einem Sofakissen geschlafen, sie auf dem Kopfkissen. Anschließend geht sie duschen, streift durch die Räume, füttert die Schildkröten, wässert die Zimmerpflanzen, mehr hat sie nicht zu tun. Setzt sich aufs Sofa, immer noch erschöpft von der Erkältung, das Fieber und der lange Mangel an Nahrung haben ihr andauernder zugesetzt, als sie es zuerst eingeschätzt hatte. Sie schaltet den Fernseher ein, um die Nachrichten zu verfolgen, sich auszuruhen, viel bekommt sie nicht mit. Schaltet ihn wieder aus. Das Gefühl, gefangen zu sein, beschleicht sie erneut, immer wieder versucht sie, sich selbst zu beschwören, dass es jetzt anders ist, dass sie nicht mehr bei Falk eingesperrt ist und er nicht weiß, wo sie sich aufhält, zum ersten Mal, seit sie ihn kennt. Du bist frei, Luna, sagt sie zu sich selbst; auch wenn du nicht hinauskannst, bist du nicht mehr gefangen wie gestern noch.
Dennoch ertappt sie sich dabei, wie sie bei jedem Geräusch zusammenzuckt, beim Quietschen des Mülltonnendeckels, als ein Mieter ihn anhebt, um einen Abfallbeutel zu entsorgen, beim Bellen eines Hundes im Hof und dem beruhigenden Zischen
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