Dornenliebe
er voller Ehrfurcht ihre Haut erkunden wie ein unbekanntes Land, ein Paradies. Sie will ihn auch berühren, streckt eine Hand nach ihm aus und fährt mit der Kuppe ihres Zeigefingers jeden Zentimeter seines Gesichts nach; die gerade Nase, die Augenbrauen, die Wangen. Als sie an seinen Lippen angekommen ist,
greift er sachte nach ihrem Handgelenk und tupft einen Kuss auf jede ihrer Fingerspitzen, sucht dann nach ihrem Mund. Beide versinken in ihren Zärtlichkeiten, ihren lange aufgestauten Gefühlen füreinander, für beide ist es wie ein Geschenk, sich endlich gegenseitig zu spüren. Sie lieben sich dennoch langsam, jeden Kuss, jede Berührung auskostend, als wäre dieses erste Mal auch gleichzeitig das letzte.
Hinterher liegen sie auf dem Rücken, noch immer Haut an Haut, Luna kuschelt sich in Jarons Achsel, er wickelt eine ihrer Haarsträhnen um seinen Finger.
»Wenn Falk nicht so völlig daneben wäre, könnte er einem fast leidtun«, überlegt Luna laut und erzählt Jaron, was sie während ihrer Gefangenschaft herausgefunden hat. »Mit seinem Schicksal möchte ich nicht tauschen. Aber so wie er damit umgeht, wird es nie klappen. Er kann eine Frau doch nicht einsperren und sie sich nach seinen Wünschen formen wie eine Wachsfigur!«
»Ich glaube nicht, dass es nur an seinem Schicksal liegt«, meint Jaron. »Du hast auch Schlimmes durchgemacht und bist trotzdem kein Schwein geworden. Falk ist neben seinem harten Los in der Kindheit einfach total machtbesessen. Johannes sagt das auch, Falk war schon als kleiner Junge jähzornig, einmal hat er ihm mit einem Ziegelstein auf den Kopf geschlagen, so fest, dass Johannes eine Platzwunde und eine Gehirnerschütterung davongetragen hat. Falk bekam Stubenarrest - mit dem Ergebnis, dass er hinterher noch unberechenbarer wurde. Aber er hat nicht mehr so offensichtlich gequält, er wurde geschickt im Vertuschen seiner Gemeinheiten. Erpresste denjenigen, auf den er es gerade abgesehen hatte. So wurde er nur selten verraten. Die meisten Spielkameraden waren fest in seiner Hand.«
»Verrückt. Dass er das jahrelang so durchziehen konnte, meine ich. Bis heute, bis in seine Beziehungen hinein.«
»Er wird sich nicht ändern, egal wie sehr sich ein Mädchen bemüht, ihm alles rechtzumachen. Falk wird immer etwas finden, was für ihn ein Grund ist auszurasten. Ein harmloses Lächeln, das einem anderen Mann gilt, das falsche Kleid, eine unbedachte Bemerkung, ein kleiner Fehler, wegen dem er gleich meint, man wolle ihm schaden. Schon knallt er mit Türen und stellt die ganze Beziehung infrage. Du kannst ihm nicht helfen, Luna. Er müsste eine Therapie machen - aber das wird er nicht tun. Lieber riskiert er das Leben anderer.«
»Ich will ihm nicht helfen. Nicht mehr, jetzt wo ich weiß, dass er es nie wirklich gut mit mir gemeint hat. Ich will Falk nie wiedersehen.«
Jaron zieht sie dichter an sich. »Wir schaffen das«, verspricht er ihr. »Wenn wir ihm lange genug aus dem Weg gehen, sucht er sich vielleicht eines Tages ein anderes Opfer.«
Am Morgen darauf geht Jaron einkaufen, besorgt alles, was sie für das Frühstück brauchen, Luna brät Spiegeleier mit Schinken, kocht schwarzen Tee, deckt den Tisch in der geräumigen Küche. Erst jetzt finden sie Zeit, in Ruhe miteinander zu reden. Jaron erzählt von seiner Kindheit in Berlin, gesteht, dass er nie der Typ gewesen ist, der zum harten Kern der Jungen in seiner Klassen gehörte, weil er immer schon ruhiger, sanfter war, oft lieber mit den Mädchen spielte als mit den anderen Jungen; einer, dem die Mädchen gern ihr Herz ausschütteten, in den sie sich jedoch kaum jemals verliebten - verliebt waren sie immer in die Draufgänger, von denen sie oft enttäuscht und mies behandelt wurden. Er verschweigt auch nicht, dass
er auf dem Gymnasium jedes Jahr aufs Neue beinahe sitzen geblieben wäre, bis er durch viel Nachhilfeunterricht und die Weichherzigkeit seiner Englischlehrerin, bei der er zwischen zwei Noten stand, doch noch sein Abitur bekommen hat.
»Und das ist ein Glück«, fügt er lächelnd hinzu. »Sonst hätten wir uns nie kennengelernt.«
Und auch Luna erzählt, zögernd zunächst, doch noch während sie redet, fallen ihr immer mehr Parallelen zwischen ihrem Leben und dem Jarons auf; auch sie war als Schülerin eher eine von der stillen Sorte, so still, dass sie sich kaum jemals zu Wort meldete, was ihr immer wieder die Noten verdarb, am Ende sogar ihr Abitur gefährdete; dennoch hatte sie bis zum Schluss gekämpft,
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