Dornentöchter
noch mehr verstörende Überraschungen in petto. Als ich später an diesem verregneten Nachmittag auf dem Bett lag und versuchte zu lesen, kam plötzlich Mutter atemlos vor Aufregung hereingestürzt und verkündete, in unserem winzigen Wohnzimmer warte eine Besucherin. Violet Bydrenbaugh. Ich stand auf und ging hinunter, wo ich stehen blieb und sie verlegen anblickte, denn ich schämte mich für unser kleines, schäbiges Haus, und gleichzeitig fragte ich mich, was sie uneingeladen hierherbrachte. Umgeben von Mutters religiösem Krimskrams wirkte sie ziemlich deplatziert, wie sie da auf unserem ungemütlichen, hart gepolsterten Sofa saß und mit den Beinen baumelte. Ihre Füße steckten in kamelbraunen Mary Janes.
Während Mutter sich in der Küche herumdrückte, offensichtlich in der Hoffnung, uns zu belauschen, erzählte mir Violet, dass Maxwell sie angerufen und angefleht habe, vorbeizukommen und im Haus auszuhelfen. Pearls Zustand habe sich drastisch verschlechtert. Daraufhin hatte Violet unbedingt zunächst bei mir vorbeischauen wollen, um herauszufinden, ob ich wusste, was dort los war. Ich verspürte einen Stich der Eifersucht, dass Maxwell nicht mich um Hilfe gebeten hatte. Wie konnte er die verwöhnte, alberne Violet meinem praktischen und gesunden Menschenverstand vorziehen? Doch vielleicht hatte Pearl befohlen, dass man mich nicht rief – wer wusste schließlich, was für paranoide Gedanken sich in ihrem Kopf eingenistet hatten?
Ich verbarg also meine Verletztheit und erklärte Violet, ich hätte keine Ahnung, was im Poet’s Cottage los war. Daraufhin zuckte sie bloß mit den Schultern und plapperte dann weiter mit ihrer Kleinmädchenstimme über die Beerdigung. Ihre Mutter hatte ihr verboten, einem solch »vulgären« Ereignis beizuwohnen.
»Sie hat ganz miese Laune«, verkündete Violet mit einem schnaubenden Kichern. »Seit man die Knochen in der Kapelle gefunden hat und die Arbeiter sich weigern, weiterzumachen, ist sie nörglerisch und unausstehlich.«
Ich hörte ihrem Geschwätz kaum zu, sondern versuchte immer noch zu verstehen, weshalb Maxwell sich an Violet gewandt hatte. Was war im Poet’s Cottage geschehen?
Auf Violets Fragen hin erzählte ich ihr ein bisschen vom Begräbnis, wobei ich Pearls seltsames Verhalten verschwieg. Ich fand Violets Neugier bezüglich der Beerdigung fast schon sensationslustig, daher wechselte ich rasch das Thema. Wir unterhielten uns kurz über den Leopardenfellmantel, den sie seit neuestem unbedingt haben wollte, und über irgendeinen dummen neuen Film, Top Hat, über den sie etwas gelesen hatte. Mehr um die Lücken in unserer Unterhaltung zu füllen als sonst etwas. Dann erwähnte ich die Geheimgänge. Auf ihre Reaktion war ich jedoch nicht vorbereitet gewesen. Sie lief rot an. »So etwas Albernes habe ich ja noch nie gehört! Das klingt wie eine Geschichte aus einem Abenteuerbuch für Jungs. Ich glaube, Maxwell hat schon genug um die Ohren, auch ohne dass du ihn mit einer solchen Sache behelligst. Falls du auch nur einen Funken Vernunft oder Feingefühl besitzt, erwähnst du nichts davon.«
Ich fühlte mich durch ihre Erwiderung angegriffen und verunsichert, und die verbleibenden zehn Minuten unseres Gesprächs verliefen angestrengt. Ich war erleichtert, als sie schließlich nach ihren Handschuhen griff und aufstand, um zu gehen.
Ich sah ihr nach, als sie das Haus verließ und ihren Schirm aufspannte. Ihr kornblumenblaues Kleid bildete einen aparten Kontrast zu ihren blonden Locken. Als ich über ihre seltsam heftige Reaktion auf meine Bemerkung über die Tunnel nachdachte, beschlich mich das unerklärliche Gefühl, dass sie Angst hatte. Aber wovor sollte sich Violet Bydrenbaugh fürchten müssen? Eine Sekunde lang, während ich die Farbe ihres Kleides betrachtete, sah ich den Stachelranken-Mann aus meinem Traum vor mir. Seine Stimme hallte noch in meinem Kopf wider, und vor meinen Augen tauchten wieder der Tang, die Krebse und die toten Fische auf, die seinen Körper bedeckten. Ich hörte seine gebieterische, tiefe, durchdringende, vom Salzwasser raue Alptraumstimme: Bring dich in Sicherheit .
KAPITEL 19
Geister
Pencubitt, Gegenwart
Sadie küsste Jackie auf die Wange, ehe sie sich Jack zuwandte. So erleichtert sie auch war, dass die beiden abreisten, so schwer fiel ihr der Abschied.
Betty klammerte sich an ihren Vater, und Jack selbst war den Tränen nahe. »Komm uns in den nächsten Ferien besuchen, Prinzessin«, sagte er. »Ich schick dir das
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