Dornentöchter
Lächeln.
Nun war er so nah, dass ich ihn hätte berühren können. Seine langen, schwarzen, knochigen Finger zeigten auf Bradley’s Cave. Bring dich in Sicherheit. Er lächelte. Er hatte Pearls Augen und trug eine Kette aus Haifischzähnen. Gekrönt wurde er von gammligem Fleisch und Fliegen. Ich erwachte mit einem Schrei, und er setzte seinen entsetzlichen Gang vor meinem inneren Auge fort.
Unten klapperte Mutter mit ihren Töpfen herum, obwohl es noch dunkel war. Sie schlief schlecht und hatte begonnen, spät in der Nacht durchs Haus zu geistern. Nach und nach wurde sie immer desorientierter, und ich hatte oft Angst, sie würde mit ihrer Kerze irgendwann das Haus anzünden. Father Kelly leistete ihr zwar Gesellschaft und bot ihr geistlichen Trost, aber das hatte ihre nachlassende Geisteskraft nicht verbessert.
Ich wusste, dass sie sich auf die Beerdigung freute. Die Todesanzeigen zu lesen war eine der wenigen Freuden, die sie sich gönnte. Vielleicht tröstete sie das Wissen, dass der oder die Verstorbene nun frei war von irdischen Fesseln und für immer beim göttlichen Schöpfer ruhen durfte, oder vielleicht war es auch nur eine morbide Lust. In unserer langlebigen Stadt hatten wir seit etwa einem halben Jahr kein Begräbnis mehr gehabt, allerdings hatte es nach dem Weltkrieg zu viele davon gegeben, und ich fürchte, Mutter war süchtig danach geworden. Mir grauste davor.
Wer würde noch sterben? Wem von uns klebte Blut an den Händen? Die Fragen und die Angst, die seit jener Nacht der grässlichen Party vor sich hin schwelten, waren durch Teddys Tod stärker geworden. Mich drängte es förmlich danach, Trost bei Father Kelly zu suchen. Es war unlogisch und albern, doch ich brauchte den Schutz der Kirche. Ich musste mich vor Gott freisprechen. Ich hatte furchtbare Angst, doch es blieb keine Zeit für mich, denn der Pfarrer würde mit den Stephens’ und der Beerdigung beschäftigt sein. Meine Beichte musste warten.
Die Kirchenglocken läuteten, als wir durch die Straßen gingen. Die meisten kamen zu Fuß, obwohl uns auch ein paar Karren überholten, die Leute von außerhalb herbrachten. Eine düstere Stimmung lag über der Stadt: Die Männer trugen schwarze Armbinden und schlechtsitzende Anzüge, und die Menschen nickten sich nur knapp zu. Ich war dankbar für den Regen, weil ich unter dem schwarzen Regenschirm mein Gesicht vor neugierigen Passanten verstecken konnte.
Die Gemeindemitglieder hatten sich zahlreicher als sonst versammelt. Verwandte der Familie Stephens waren mit dem Zug aus anderen Teilen des Landes angereist und sorgten dafür, dass die kleine Kirche fast voll war. Die Familie saß in der ersten Reihe, und Mrs Stephens weinte an der Schulter einer Frau, die ich nicht kannte. Mr Stephens saß mit gesenktem Kopf da und blickte nicht ein einziges Mal auf. Im Gegensatz dazu sah sich Arthur pausenlos um, als suche er nach jemandem. Ich wusste, nach wem er Ausschau hielt. Ich hatte gefürchtet, Pearl würde auftauchen, doch sie war nirgends zu sehen. Zweifellos würde man auch das kommentieren. Man konnte es den Leuten nicht recht machen: Egal, ob Pearl am Begräbnis teilnahm oder nicht, sie würden sie so oder so kritisieren.
Von Father Kellys Predigt nahm ich kaum ein Wort auf. Stattdessen hörte ich in mir die Stimme des Mediums.
Der Schulchor sang einen Choral, und ein Fischer, der mit auf der Siren’s Tresses gewesen war, sprach über Teddy und seine Fröhlichkeit auf dieser schicksalsträchtigen Fahrt. »Er liebte das Meer. Er fühlte sich dort mehr zu Hause als auf dem Land.« Ein zustimmendes Murmeln ging durch die Gemeinde. Das Meer mochte sich einen jungen Mann geholt haben, aber Pencubitt war abhängig vom Meer. Tief in unserem Herzen wussten wir, dass man den Wind, die Gezeiten und die Launen des Ozeans nicht bändigen konnte. Niemand erwähnte, dass Teddy getrunken hatte.
Ein weiterer junger Fischer, der mit Teddy seit Kindertagen befreundet gewesen war, stand auf. Während er sprach, erschien Pearl, gefolgt von Maxwell, Thomasina und Marguerite. Sie trugen alle Schwarz, sogar die Mädchen. Pearl, die in ihrem schwarzen Kleid und der Jacke mit Pelzbesatz eine trotzige Schönheit ausstrahlte, trug Perlen an den Ohren und um den Hals. Ihr stählerner Blick forderte die Menge heraus. Maxwells blasses Antlitz wirkte verwirrt, als würde er seine Nachbarn nicht mehr erkennen. Bildete ich es mir ein, oder wurde seine Miene weicher, als er mich entdeckte, als wäre er erleichtert, ein
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