Dornentöchter
ihrer Mutter. Sie sah sich selbst wieder als Kind, wie ihre Mutter sie am Arm hinter sich herzog, das Gesicht ganz rot, während sie brüllte, dass sie Thomasina an ihren Teufel verfüttern würde. Sie erinnerte sich an den Geruch, als sie sich vor Angst in die Hose gemacht hatte, und an ihren Vater, der ihre Mutter anschrie. So viele dunkle, beunruhigende Stimmen aus der Vergangenheit.
»Sei vorsichtig, du Pearl-Doppelgängerin«, flüsterte sie. »Er ist immer noch hier. Er ist nicht verschwunden.« Die Erinnerung an den zuckenden Körper ihrer Mutter tauchte wieder auf. Es schien so lange her zu sein, dass sie sich völlig losgelöst von diesem Bild fühlte. Manchmal fragte sie sich insgeheim, ob sie es wirklich gesehen hatte. Oder hatte sie es sich nur eingebildet, weil sie das war, als was ihre Mutter sie immer bezeichnet hatte: EIN GANZ BÖSES KIND . Vielleicht hatte sie sich bloß eingebildet, ihre Mutter auf diesem Tisch zu sehen. Schließlich hatte sie sich so viele Male gewünscht, Pearl würde sterben. Und dann gab es da eine noch dunklere Erinnerung, an die sie jedoch nicht denken wollte. Das, was sie tief in ihrem Innern versteckt hatte, aus Angst, es könnte das passieren, was ihre Mutter gesagt hatte, falls Thomasina erzählte, was sie gesehen hatte. Denn nur ein sehr böses Kind würde sehen, was sich ihr an jenem Tag gezeigt hatte.
Wenn ihre Mutter sie geschlagen hatte, schrie Thomasina oft: »Ich hasse dich! Ich wünschte, du wärst tot!« Sie hatte ihre Mutter tatsächlich von ganzem Herzen gehasst. Pearl konnte einen anlächeln und schon im nächsten Moment füllten sich ihre Augen ohne ersichtlichen Grund mit Abscheu und sie fing mit ihren grausamen Demütigungen an. Doch sie ließ ihre furchtbaren Launen nie an Marguerite aus, immer nur an Thomasina. Viele Male hatte ihre Mutter Thomasina erklärt, dass sie die Strafen verdiente, weil SIE EIN GANZ BÖSES KIND WAR . »Du bist das schlimmste Kind, dem ich je begegnet bin. Du wirst es nie zu irgendwas bringen! Hör mir zu. Ich weiß es, denn ich kann bis in dein niederträchtiges, nutzloses Innerstes schauen.« Sie schrie und warf, was immer gerade in Reichweite war, nach Maxwell und Thomasina. Sie riss an ihren eigenen Haaren, zerkratzte sich das Gesicht und zerstörte jeden, alles Glück, jedes fröhliche Lachen. Es fiel Thomasina schwer, Leuten zuzuhören, die von der Schönheit und der künstlerischen Begabung ihrer Mutter schwärmten. Alles, was sie je gekannt hatte, war die schreiende Frau, die trat, schlug und sie grundlos bestrafte. Diese Frau sollte sterben. Und sie war gestorben, im Keller, zuckend und bebend in ihrem eigenen Blut, und Thomasina hatte zugesehen. Nun hatten Sadie und Betty sie zurückgebracht. Zur Hölle mit ihnen!
Thomasina wusste, dass die Frau im schwarzen Mantel durchs Haus streifte. Sie hatte sich manchmal gefragt, ob sie Betty warnen sollte. Das Mädchen war intelligent, witzig und irgendwie echt. Sie brachte Thomasina zum Lachen. Würde Betty wissen, wie sie sich gegen den Teufel schützen musste, wenn er aus dem Keller kam? Aber jedes Mal, wenn Thomasinas Gewissen sie drängte, etwas zu sagen, sah sie wieder Sadie vor sich, wie sie im Garten saß oder Wäsche aufhängte, wie sie lachte und sich mit ihrer Tochter unterhielt. Die Ähnlichkeit mit Pearl versiegelte ihre Lippen.
Sie griff nach einem großen Tranchiermesser, das immer am Waschbecken lag. Jetzt, wo sie älter war, konnte sie sich selbst verteidigen. Sollte der Teufel kommen, um sie zu holen, wäre sie vorbereitet.
Sadie stand auf, um nach drinnen zu gehen. Sie sammelte ihre Hefte ein und sah sich um, als würde sie nun doch noch bemerken, dass sie beobachtet wurde. Ja, sie sah Pearl viel zu ähnlich, dachte Thomasina und griff wieder nach dem Messer. Sie konnte es sehen, und der Teufel würde es riechen. Er würde wieder Futter brauchen, und er würde kommen. Sollte sie die Frau warnen? Die meisten Menschen hätten es wahrscheinlich getan, aber Thomasina wusste, dass in ihr ein ECHT BÖSER MENSCH steckte. Etwas sagen oder nichts sagen? Thomasina war immer noch unentschlossen, als Sadie ins Haus ging.
KAPITEL 21
Der Rote Drachen erhebt sich
Pencubitt, 12. Juli 1936
Noch Jahre nach Pearl Tatlows Ermordung ergötzten sich die Einheimischen regelmäßig an der Erinnerung, was genau sie gerade getan hatten, als sie von ihrem Tod erfuhren. Für unsere kleine Gemeinde war es ein grauenvolles Ereignis. Allgemein wird gemunkelt, sie sei kurz nach dem
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