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Dornentöchter

Dornentöchter

Titel: Dornentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josephine Pennicott
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Mittagessen umgebracht worden. Die Wetterlage im Nordwesten war seltsam, mit einer für die Jahreszeit ungewöhnlichen Hitze an einem Tag und Temperaturen unter null am nächsten. Am 12 . Juli 1936 lagen dicker Nebel und eisige Kälte über der Stadt. Am selben Nachmittag gab es ein schreckliches Zugunglück, als ein Baum auf den Waggon eines Zuges fiel, der nach Burnie unterwegs war. Fünf Menschen starben. Doch selbst dieser Tragödie, die Pencubitt normalerweise monatelang Gesprächsstoff geliefert hätte, gelang es nicht, uns zu berühren. Wir waren einfach zu schockiert von den Vorfällen im Poet’s Cottage. Entweder hatte einer von uns ein abscheuliches Verbrechen begangen, oder ein Fremder war in Pencubitt eingedrungen – ein Fremder, der durchaus wiederkehren konnte. Die meisten Menschen glaubten an die zweite Version, doch viele Amateurdetektive behaupteten zu wissen, wer der Mörder war. Man zeigte mit dem Finger auf Maxwell (»Es ist immer der Ehemann!«), während andere überzeugt davon waren, Arthur Stephens wäre der Schuldige, aufgrund seines Ausbruchs an den Docks. Emily McCarthy war eine weitere beliebte Verdächtige. Die Gerüchteköche munkelten, sie hätte eine Affäre mit Maxwell gehabt und sich nun zurück in die Stadt geschlichen, um Rache zu üben, nachdem Pearl sie rausgeworfen hatte. Niemand war so taktlos, mich direkt zu beschuldigen, aber ich bin sicher, auch mein Name fiel. (Selbst der arme alte Zahnarzt, der tags zuvor dort gewesen war, um Thomasina den Zahn zu ziehen, wurde vorgeladen. Die Leute fingen an, hinter seinem Rücken zu flüstern, und er zog schließlich nach Burnie, um alldem zu entkommen.) Zu meinen Aktivitäten an jenem Tag wurde ich von einem großen Aufgebot an Polizeikräften aus Hobart eingehend befragt. Sie interessierten sich besonders für mich, da ich unglücklicherweise eine der letzten gewesen war, die Pearl Tatlow lebendig gesehen hatte.
    Wie sehr ich meinen spontanen Impuls bedauerte, Pearl an jenem schicksalsreichen Morgen zu besuchen! Mutter hatte darauf bestanden, dass ich mich von der »Hure« fernhielt, aber das Bedürfnis, herauszufinden, wie es Pearl seit Teddys Beerdigung ging, war zu stark, ebenso wie meine Neugier, was die angeblichen Geheimgänge im Haus betraf. Außerdem hatte ich Maxwell schon viel zu lange nicht mehr gesehen. Ich hatte gehört, er sei abgemagert, verhärmt und niedergeschlagen und verbringe seine Abende trinkend im Hotel. Mir wurde es eng in der Brust vor Ärger, dass Pearl meinen alten Freund so dramatisch verändert hatte.
    Der Nebel sorgte dafür, dass nicht viele Leute auf den Straßen waren, als ich mich auf den Weg zum Poet’s Cottage machte. Die Menschen verkündeten später, sie hätten in Pencubitt noch nie einen so dichten Nebel erlebt. Es war, als hätte der Teufel selbst ihn geschickt, um das Böse in der Stadt zu verbergen. Ich erinnere mich auch noch daran, dass es an diesem Tag bitterkalt war. Selbst durch meinen dicken Mantel und meine wollene Unterwäsche hindurch fror ich bis auf die Knochen und konnte kaum atmen. Der heftige Frost an diesem Morgen hatte ein Pferd ausrutschen lassen, das sich auf der eisigen Straße ein Bein brach. Wir wussten, dass wir einen harten Winter vor uns hatten, und ich machte mir Sorgen um Mutters Gesundheit.
    Als ich in die Küstenstraße einbog, wehte ein so kalter Wind, dass mir das Mark in den Knochen zu gefrieren drohte. »Neugier ist der Katze Tod« lautet ein altes Sprichwort, und in meinem Fall bewahrheitete es sich beinahe. Weil ich Pearl an jenem Morgen besuchte, wurde ich für kurze Zeit zur Mordverdächtigen. Hätte man mich verurteilt, hätte das Tod durch Erhängen bedeuten können. Oder ich hätte diejenige sein können, die an jenem Tag im Poet’s Cottage umgebracht wurde. Das ist der Schrecken, der mich immer noch mitten in der Nacht hochfahren lässt – das Wissen, dass ich dem Wahnsinnigen, der sie abgeschlachtet hat, ebenfalls hätte zum Opfer fallen können, wenn ich noch länger geblieben wäre. Denn es musste doch ein Wahnsinniger gewesen sein. Wer sonst hätte ihrem Körper das antun können?
    Pearl öffnete die Tür in ihrem fleckigen Négligé. Ihr roter Lippenstift war verschmiert und dunkle Ringe unter ihren Augen zeigten mir, dass sie nicht geschlafen hatte. Sie hielt eine Tasse in der Hand, doch der Geruch verriet, dass es sich bei dem Getränk nicht um Tee handelte. Ich versuchte, mein Missfallen zu verbergen.
    »Hallo, Birdie«, säuselte sie.

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