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Dornentöchter

Dornentöchter

Titel: Dornentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josephine Pennicott
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bewusst, wie viel Maxwell durch seine Frau hatte ertragen müssen. Wie sie ihn mit ihren Affären gequält hatte. Maxwell wäre nicht dazu fähig gewesen, irgendein Geschöpf umzubringen. Er hatte einfach nicht das Zeug dazu. Ich sah seinen tiefen Kummer und seinen Schmerz, als sie ihre Leiche fanden. Er sagte, er wäre zu einem Strandspaziergang aufgebrochen, kurz nachdem ich das Poet’s Cottage verlassen hatte. Niemand konnte seine Aussage bestätigen. Ein Fischer erinnerte sich daran, jemanden am Strand gesehen zu haben, hatte demjenigen jedoch keine weitere Beachtung geschenkt. Es war auch nicht sonderlich hilfreich, dass es sich bei diesem Fischer um Jeremy Byrnes handelte, der als Stadtsäufer bekannt war.
    Aufgrund des Mangels an verlässlichen Zeugen für seinen einsamen Spaziergang wurde Maxwell auf eine Art und Weise unter die Lupe genommen, die unangemessen und beleidigend war. Wie konnte es schließlich sein, dass in einer Stadt, die so klein war wie Pencubitt, niemand Maxwell am Strand gesehen hatte? Die Zeitungen und Tratschweiber, die solche Fragen stellten, versäumten, zu erwähnen, dass sich die meisten Leute bei den eisigen Temperaturen in ihren Häusern aufgehalten hatten.
    Obwohl es nie genug Beweise gab, um Maxwell oder mich anzuklagen, hielten das Gerede und die Spekulationen noch jahrelang an. Es war auch nicht zuträglich, dass wir einige Zeit nach Maxwells Rückkehr aus Europa beschlossen, unser Leben zusammen zu verbringen und den Argwohn der Leute gemeinsam zu ertragen.
    Ich mag mir nicht ausmalen, welche Ängste Pearl empfunden haben muss, als sie plötzlich ihrem Mörder gegenüberstand, obwohl sie dachte, sie sei allein in ihrem Haus. Was mich nicht loslässt, ist die Frage, was sie im Keller wollte. Hatte es mit meinem Besuch zu tun? War sie hinuntergegangen, um nach dem Gang zu suchen, den ich erwähnt hatte, oder hatte sie versucht, etwas zu verbergen? Ich habe lange über diese Dinge nachgedacht, kam aber nie zu einem befriedigenden Schluss. Es war unmöglich, das Thema Maxwell gegenüber anzuschneiden. Wir sprachen nicht über Pearl – es quälte ihn zu sehr. Ich glaube, er verspürte unerträgliche Schuldgefühle, dass er nicht da gewesen war, um sie zu beschützen, als sie angegriffen wurde. Auch ich fühlte mich schuldig, dass ich auf ihren stummen Hilfeschrei an jenem Tag nicht reagiert, sondern das Poet’s Cottage verlassen hatte. Denn wenn ich nach all den Jahren so zurückblicke, weiß ich, dass es sich um einen Hilfeschrei handelte. Ich bin überzeugt davon, dass sich Pearl in den letzten Stunden ihres Lebens verzweifelt eine Freundin gewünscht hat. Und ich habe sie verlassen.
    Der Milchmann überbrachte Mutter als Erster die Neuigkeiten. Früh am Montagmorgen lieferte er unsere übliche Flasche Milch und die Butter, und ich hörte die beiden einige Minuten lang an der Haustür reden, während ich noch im Bett lag. Mutter hätte müßiges Geplauder mit dem Milchmann sonst niemals gutgeheißen. Mir wurde klar, dass etwas von größter Wichtigkeit passiert sein musste. Zuerst nahm ich an, dass sie sich über das Zugunglück unterhielten, doch dafür klang Mutters Tonfall zu aufgeregt. Ich lag da und wartete auf das Geräusch ihrer Schritte auf den Dielen, wenn sie kam, um es mir zu erzählen.
    Pencubitt hatte noch nie einen Schrecken dieses Ausmaßes erlebt. Wir waren an den Tod gewöhnt – zu viele junge Männer waren damals im Ersten Weltkrieg umgekommen –, doch noch nie hatte es einen grausamen Mord direkt vor unserer Haustür gegeben. Mord war etwas, das in Büchern passierte oder in großen Städten. Die Einwohner Pencubitts betrachteten einander mit ungewohntem Misstrauen, und einige beschlossen, die Stadt zu verlassen, da sie überzeugt davon waren, ein Wahnsinniger liefe frei herum. Türen, die stets unverschlossen gewesen waren, wurden nun verriegelt. Entsetzen und Angst legten sich wie ein schwerer Schleier über die Stadt.
    Das Begräbnis fand an einem Tag statt, an dem die Straßen tief verschneit waren. So unbeliebt Pearl auch gewesen war, nun wollte ihr die ganze Stadt Lebewohl sagen. Die Anwesenheit der Polizei erinnerte uns daran, dass der Mörder immer noch nicht gefasst war, und die Reporter benahmen sich vor lauter Eifer, jedes Detail festzuhalten, wie eine wilde Meute.
    Ich habe noch nie einen so gramerfüllten Mann gesehen wie Maxwell: In der Kirche zuckten seine Schultern, und er stöhnte und schluchzte laut. Das mitzuerleben war entsetzlich. Ich

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