Dornentöchter
Dank«, hauchte sie erneut, woraufhin Violet einen leisen Knurrlaut von sich gab, der vielleicht »Gern geschehen« bedeuten sollte.
Violet planschte im nach Lavendel duftenden Bad herum, während Betty und Sadie in Sadies Schlafzimmer den Inhalt des Geheimschrankes untersuchten.
»Die Sachen müssen eine Bedeutung haben«, sagte Sadie. »Pearl hat sich so viel Mühe gegeben, sie zu verbergen. Aber wozu der Knopf?« Im Innern des Medaillons befand sich eine silberblonde Haarlocke. »Glaubst du, die hat ihrer Mutter gehört?«, meinte Betty.
»Keine Ahnung. Vielleicht auch Marguerite oder Thomasina? Die hatten als Kinder beide blonde Haare.«
Sadie zog einen Brief aus dem Umschlag, der in Hobart abgestempelt worden war.
29. Juni 1936
Sehr geehrte Mrs Tatlow,
es enttäuscht mich schon, dass das Flüstern der Engel Sie dermaßen aus der Fassung gebracht hat, als ich auf Ihre Einladung hin Ihre Gesellschaft besuchte. Diesbezüglich kann ich nur betonen, dass alle meine Kunden bisher mehr als zufrieden waren. Ich bin mir sicher, dass die Dinge, die ich an jenem Abend sagte und sah, absolut stimmen. Meine Engel irren sich nie. Ich bitte Sie deshalb darum, die Gebühr, die mir zusteht, doch noch zu begleichen. Denken Sie daran: Die Arbeit, die ich leiste, kommt vom Himmel. Auch ich muss essen und die Zeiten sind hart. Ich unterstütze außerdem meinen Bruder, der seit einem Unfall nicht mehr arbeitsfähig ist. Mein Honorar ist bescheiden und zusätzlich fallen sonst nur noch die Reisekosten an.
Was Ihre Frage betrifft, ob ich gesehen habe, wer der Mörder ist, so kann ich Ihnen mitteilen, dass ich die Person in der Tat gesehen habe, die Ihnen, in nicht allzu ferner Zukunft, das Leben nehmen könnte. Möge Gott mich niederstrecken, falls ich lügen sollte. Ich werde in den nächsten zwei Monaten in Launceston als Medium arbeiten und könnte Sie bei Ihnen zu Hause aufsuchen, um Ihnen mehr darüber zu erzählen. Jedoch nur, wenn Sie meinen Bedingungen zustimmen.
Ich möchte Sie warnen, vorsichtig zu sein, werte Mrs Tatlow. Sprechen Sie mit niemandem darüber, auch nicht mit Ihren Liebsten.
Ich bitte Sie, meine verehrte Mrs Tatlow, vertrauen Sie niemandem. Ich kenne das falsche Gesicht der Person, die Ihnen so nahe steht.
Hochachtungsvoll,
Jean
»Pearl muss sich furchtbare Sorgen wegen der Prophezeiung gemacht haben«, stellte Sadie fest.
»Seltsam, wie sie den Brief aufbewahrt hat«, meinte Betty.
»Nicht wirklich, wenn man bedenkt, dass sie auch einen Knopf aufgehoben hat.«
Als Nächstes nahm Sadie den vergilbten Papierstapel zur Hand. Sie sah, dass es sich um eine handschriftliche Geschichte handelte, deren Ränder mit Pearls eigenen Entwürfen für ihre Figuren bedeckt waren statt mit Edgar Cabrets unverwechselbaren Illustrationen. Sadie überflog die Geschichte und blickte dann mit großen Augen auf. »Du meine Güte, sie hat Kenny am Ende tatsächlich umgebracht.«
Betty kuschelte sich an ihre Mutter, als wäre sie immer noch das Kind, dem Sadie einst vorgelesen hatte, und Sadie begann »Tod eines Lachvogels« vorzulesen.
Als sie geendet hatte, saßen die beiden einen Moment lang schweigend da.
»Das ist schrecklich, oder?«, meinte Sadie schließlich. »So düster und grausig für eine Kindergeschichte! Arme Pearl. Sie muss nervlich ziemlich krank gewesen sein, um so etwas zu schreiben.«
»Aber die ganzen alten Märchen waren auch grausam, bevor die Viktorianer und Walt Disney sie in die Finger gekriegt haben«, gab Betty zu bedenken.
»Stimmt. Aber warum sollte sie den Entwurf zusammen mit einer Haarlocke, einem Brief von ihrem Medium und einem Knopf verstecken?«
»Vielleicht litt sie unter irgendeiner Art von Zwangsstörung? Wenn sie psychisch krank war, dann können wir schließlich keine logischen Handlungen von ihr erwarten«, erwiderte Betty.
»Vielleicht. Sobald Violet aus dem Bad kommt, werde ich sie fragen, ob sie irgendetwas darüber weiß. Wenn nicht, dann wird es wohl Teil des Rätsels von Poet’s Cottage bleiben.«
» Falls sie aus dem Bad kommt«, meinte Betty. »Offensichtlich ist ihr das Badezimmer ziemlich vertraut. Ich hab das Gefühl, wir sind in unserem eigenen Haus zu Gast!«
Als Violet schließlich auftauchte, trug sie einen alten Wollrock und einen Pulli von Sadie und roch verdächtig nach Sadies Chanel-Parfüm. Sadie zeigte ihr den Papierstapel aus dem Schrank. »Was bedeutet das, Violet?«, fragte sie.
Violet zeigte auf den Knopf und das Medaillon. Sie nahm den Knopf
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