Dornentöchter
über den Kopf geweht zu werden und so mein Unterkleid zu entblößen. Victor bemühte sich um etwas höfliche Konversation, doch ich antwortete mürrisch und einsilbig. Kühl verabschiedeten wir uns vor meiner Haustür.
Er will sie. Er will sie. Nicht mich. Wie dumm von mir, dass ich nicht auf Mutter gehört hatte!
Der Abend, auf den ich mich so sehr gefreut hatte, war zu einem einzigen Desaster geraten. Ich konnte es gar nicht erwarten, mich im Bett zu verkriechen und mich in der Abgeschiedenheit meines Kinderzimmers in den Schlaf zu weinen.
»Wie war dein Abend?«
Ich blieb in der Diele stehen. Natürlich, Mutter war noch wach und hatte auf mich gewartet.
»Mir geht’s gut«, rief ich. »Es war amüsant. Gute Nacht, Mutter.«
Aber sie ließ sich selbstverständlich nicht täuschen. Sie wusste sofort, dass etwas nicht in Ordnung war und ließ mich in ihr Schlafzimmer kommen, um zu erfahren, was genau dieses etwas war. Nach einem Blick auf mein tränennasses Gesicht bohrte sie nach jedem winzigen Detail wie ein Spürhund auf der Suche nach Trüffeln. Ich verschwieg ihr nichts. Ich war todmüde, litt an gebrochenem Herzen und fühlte mich verraten. Nicht von Victor – dass er sich von mir abgewandt hatte, konnte ich ertragen –, sondern von der Frau, die ich für meine Freundin gehalten hatte. Pearl.
Mutter hörte sich meine Geschichte an und trocknete meine Tränen mit ihrem Taschentuch. »Wann hörst du endlich auf mich, mein Schatz?«, meinte sie schließlich. »Diese Frau ist eine hinterlistige Schlange! Und besitzt auch noch die Unverfrorenheit, die Stephens’ einzuladen! Wusstest du, dass sie mit beiden gleichzeitig was am Laufen hat? Der arme Maxwell.«
Dieses Mal musste ich ihr zustimmen. Der arme Maxwell.
»Du wirst noch an meine Worte denken«, prophezeite Mutter und lehnte sich in ihr besticktes Kissen zurück. »Sie wird ein schlimmes Ende nehmen. Das ist bei solchen Frauen immer so. Um das herauszufinden, hätte dieses Flittchen wirklich keine gottlose Wahrsagerin gebraucht. Das hätte ich ihr kostenlos mitteilen können. Bete mit mir, mein Schatz. Bring deinen Schmerz vor den Schöpfer, der alles weiß und alles sieht. Nicht zu hellseherischen Scharlatanen, die Worte des Teufels sprechen.«
Wie befohlen kniete ich neben Mutters Bett nieder, und als ich wieder aufstand, schwor ich mir, nie wieder mit Pearl zu sprechen. Ich dachte daran, wie Victor meinem Blick ausgewichen war. Und so ging ich zu Bett, überzeugt davon, dass ich Pearl hasste und unsere Freundschaft zu Ende war.
KAPITEL 6
Der Zahnarzt
Pencubitt, Gegenwart
Der Montagmorgen, an dem Betty in ihrer neuen Schule anfangen sollte, war düster und bewölkt. Ein Sturm schien sich zusammenzubrauen und die Stimmung im Poet’s Cottage passte dazu. Nervös und trotzig weigerte sich Betty etwas zu essen, was Sadie mit großer Sorge erfüllte. Und dann, als sie gerade in ihren Frühstückstoast biss, spürte Sadie ein Knacken.
»Verdammt!« Sie hatte sich ein Stück vom Backenzahn abgebrochen. Betty vergaß ihre schlechte Laune, als sie gemeinsam das abgesplitterte Stück betrachteten. »O nein!«, jammerte Sadie. »Ich war vor gar nicht allzu langer Zeit bei der Routineuntersuchung und da war alles in Ordnung. Außerdem weiß ich gar nicht, ob es in Pencubitt überhaupt einen Zahnarzt gibt.«
Schnell fanden sie mit Hilfe des Telefonbuchs heraus, dass es in der Stadt tatsächlich einen Zahnarzt gab, Gary Karilla. Während Betty ihre Schultasche packte, rief Sadie dort an. Eine automatische Ansage teilte ihr mit, dass die Praxis erst in einer Stunde öffnen würde, daher hinterließ sie eine Nachricht, in der sie um einen Notfalltermin bat.
»Beeil dich, Betty!« Wie sehr sie den Stress am Morgen hasste, wenn sie Betty antreiben musste, rechtzeitig zur Schule zu kommen. Mutter und Tochter beschuldigten sich immer gegenseitig, zu spät dran zu sein.
»Ich komme!«, rief Betty und tauchte bei Sadie an der Haustür auf. Gemeinsam liefen sie durch den Regen zum Auto. Keine von beiden bemerkte Thomasina, die neben dem Poet’s Cottage stand und ihren Aufbruch beobachtete.
Zum Glück kamen sie auf der Hauptstraße gut durch.
» Au revoir , mein Schatz. Um Himmels willen, Kopf hoch! Vielleicht gefällt es dir ja in der Schule, und du findest neue Freunde.« Sadie küsste Betty auf die Wange, als sie sie an der Bushaltestelle nach Burnie aussteigen ließ.
»Mum, bitte, das ist so peinlich«, murmelte Betty. »Die Leute da beobachten
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