Dornentöchter
als Engel bezeichnet zu werden. Ehrlich gesagt war ich gekränkt. Emily war gerade mal siebzehn Jahre alt und verbrachte nun jeden Tag mit Maxwell und Pearl. Wann immer ich zu Besuch war, drückte sie sich in der Nähe herum, einen Putzlappen in der Hand, den Mund halb offen, und tat beschäftigt (derweil sie, da bin ich mir sicher, jedes Wort aufschnappte, um es ihrer klatschfreudigen Mutter, Rhonda McCarthy, zu berichten). Ich fühlte mich wie ein Eindringling. Maxwell freute sich immer noch, mich zu sehen, aber es störte mich, dass ich nun seine Aufmerksamkeit mit seinem »Engel« teilen musste. Pearl und Maxwell behandelten Emily wie eine wertvolle Puppe, bestaunten unablässig ihre Fähigkeiten in Haushaltsdingen und verkündeten, wie sehr die Kinder sie liebten. Kein Wunder fing das Ding an, sich so aufzuspielen!
Eines Tages Anfang Dezember schaute ich im Poet’s Cottage vorbei, um Pearl ein Rezept für Shortbread vorbeizubringen, um das sie mich wegen eines nahenden Nachmittagstees dringend gebeten hatte. Es war ein warmer Tag, ein echter Kontrast zum eisigen November, den wir durchlitten hatten. Auf mein Klopfen hin öffnete niemand. Da ich annahm, dass Pearl und die Mädchen an den Strand gegangen waren, beschloss ich, einfach hineinzugehen und das Rezept auf den Tisch im Flur zu legen. Niemand in Pencubitt schloss je seine Haustür ab. Warum auch? In unserem Städtchen war nie ein Verbrechen geschehen, und wir kannten und vertrauten uns alle. (Nachdem Pearl ermordet worden war, sah die Sache natürlich ganz anders aus. Nachbarn beäugten sich ängstlich und misstrauisch, und nach und nach wurden Türen selbst vor bekannten Gesichtern verriegelt.)
Als ich das Haus betrat, hörte ich jemanden hinten im Garten lachen. Nach dem grellen Sonnenlicht fühlte sich das Cottage kühl an, und im Flur roch es nach Lavendel und Essen. Ich erhaschte einen Blick auf mein Antlitz im Spiegel. Ich sah erhitzt, aufgeregt und hübsch aus. Als ich die freudige Erwartung in meinem Gesicht sah, wurde ich plötzlich von einer wilden Sehnsucht erfüllt, die ich kaum zum Ausdruck bringen konnte. Eine Lust auf wilde Erdbeeren und Sonnenlicht auf meinem nackten Körper. Den Mund eines Mannes auf meinem. Die Wärme seines Atems. Das Gewicht seines Körpers und die Weichheit seines Haars, wenn ich mit den Fingern hindurchfuhr. So viele Sinne, Geschmäcker und Erfahrungen, die ich nicht kannte – nach denen ich mich sehnte!
Das Lachen eines Mädchens klang aus dem Garten herein – ja, an diesem sonnigen Tag war selbst Thomasina glücklich. Ich ging in die Küche. Der Eisschrank gab sein übliches Tropfgeräusch von sich, und aus dem vorderen Zimmer ertönte Musik. Eine amerikanische Jazzmelodie. Mir fiel auf, dass die Küche blitzblank war, zweifellos dank Angel. Ein Schinken hing an einem großen Haken von einem der Deckenbalken, und auf einem Teller auf der Bank lag ein Stück Käse. Die Tür zum Keller stand offen. Ich warf einen Blick auf die dunkle Öffnung, denn mir fiel Thomasinas wilde Geschichte wieder ein. Ein seltsamer Geruch schien die Kellerstufen heraufzudringen – und eine Sekunde lang glaubte ich ein leises Knurren zu vernehmen sowie das Klirren einer Kette. Ich schob es jedoch auf meine blühende Phantasie.
Durch die offene Hintertür sah ich hinaus in den Garten. Die Familie befand sich in der Tat draußen. Ich konnte den überwältigenden Duft des Jasmins riechen. Die unförmigen neuen Skulpturen der Stachelranken-Männer, die Pearl bestellt hatte, waren immer noch in Papier verpackt. Die Mädchen jagten einander mit Schmetterlingsnetzen. Mit ihren rosafarbenen Spitzenkleidchen und den moosgrünen Schleifen im Haar wirkten sie beide engelsgleich. Maxwell saß auf dem Gras, wo sie offensichtlich ein Picknick veranstaltet hatten. Neben ihm saßen mehrere Puppen auf einem weißen Tischtuch, das mit winzigen Porzellantassen und Tellern mit Kuchenkrümeln und übriggebliebenen Sandwichs gedeckt war. Pearl hatte sich ausgestreckt, den Kopf in Maxwells Schoß. Sie trug einen großen Sonnenhut, und er fütterte sie mit Trauben. Neben ihm saß Angel in einem himmelblauen Rock und einer weißen Baumwollbluse mit aufgedruckten rosa Rosen. Ich starrte das Grüppchen an, so sehr machte mich die offensichtliche Vertrautheit zwischen den dreien betroffen. Sie glichen einem herrlichen Monet-Gemälde, von Sonnenlicht betupft. Emily sah viel schöner aus, als ich sie in Erinnerung hatte. Woher hatte sie das Geld für diese
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