Dornentöchter
wusste, wo sie hingehen sollte, spazierte sie zum Strand. Es war warm genug, um kurze Ärmel zu tragen, aber nicht zum Baden. Ganze Autoladungen voll Touristen machten hier Picknicks und schossen Fotos. Es tat weh, glückliche Familien zu sehen, während sie selbst sich so allein fühlte. Sie ging weiter, bis sie Bradley’s Cave erreichte. Hier, hatte Birdies Manuskript angedeutet, war Pearl mit ihrem Liebhaber verabredet gewesen, während Birdie am Strand auf Thomasina aufpasste. Neugierig ging sie zum Höhleneingang. Nachdem sie ein paar Schritte über große, algenbedeckte Felsen gestolpert war, musste sie Dornenranken und Brombeersträucher beiseiteschieben, die vor der Öffnung wucherten. Dabei hielt sie sicherheitshalber Ausschau nach Schlangen. Nur ein paar Schafe oben auf den Klippen sahen ihr dabei zu.
Bradley’s Cave wurde offensichtlich von den Einheimischen immer noch als Treffpunkt verwendet. Leere Bierflaschen, Zigarettenkippen und benutzte Kondome lagen um die verkohlten Überreste eines Lagerfeuers herum. Die Telefonnummern gewisser Damen waren als Graffitis an die Wände gekritzelt. Im oberen Teil der Höhle formte eine Schicht Steine einen natürlichen Sims. Es war ein befremdliches Gefühl, den Strand und das Meer vom Höhleneingang aus zu sehen und zu wissen, dass 1935 Pearl genau hier gestanden und Birdie beobachtet hatte. Traf Pearl ihren Liebhaber damals wirklich in der Höhle, wie Birdie glaubte? Falls ja, war es Teddy? Victor? Oder jemand anderes? Es gab so viele unbeantwortete Fragen!
Als Sadie sich umdrehte und ihren Blick in der Höhle schweifen ließ, weckte ein Graffiti ihre Aufmerksamkeit. Zwischen den Telefonnummern und Oralsex-Versprechungen standen, mit roter Farbe geschrieben, die Worte: Pearl Tatlow hat es verdient zu sterben . Erschrocken trat Sadie näher an die feuchte Höhlenwand, um die Worte ein zweites Mal zu lesen. Die Farbe wirkte frisch, aber das konnte auch daran liegen, dass sich der Schriftzug nahe der Höhlendecke befand, wo es relativ trocken und geschützt war. Eine große Huntsman-Spinne, die ganz in der Nähe hockte, hielt Sadie davon ab, das Ganze noch genauer unter die Lupe zu nehmen. Wenn ihr eine von denen in die Haare krabbelte, würde sie durchdrehen. Sie schüttelte ihr neues kurzes Haar aus der Stirn – nun, wenigstens ein Vorteil: Es war nicht mehr genug davon übrig, als dass sich eine Spinne darin hätte verstecken können.
Aber wer konnte so etwas geschrieben haben? Sadie drehte sich langsam um, denn irgendwie fühlte sie sich durch die Botschaft bedroht. Der Rest der Graffitis war offenbar älter, einige Worte schon verblasst. Dieser Satz in Rot sah jedoch wesentlich frischer aus, und irgendetwas daran wirkte beabsichtigt, sogar bedrohlich. War es ein Zufall, dass er erst vor kurzem dort hingeschrieben worden war, vielleicht sogar erst seit Sadie und Betty ins Poet’s Cottage gezogen waren? Waren die Worte womöglich sogar für sie bestimmt?
Gelächter vom Strand her signalisierten ihr, dass sich Menschen über die Steine näherten. Als sie die Höhle verließ, konnte sie den Eindruck nicht abschütteln, dass es sich bei dem Satz irgendwie um eine Warnung handelte, die an sie gerichtet war. Draußen schimmerte das Meer bei Ebbe wie ein stahlblaues Band am Horizont. Während sich Sadie ihren Weg durchs Brombeergestrüpp bahnte, hatte sie das seltsame Gefühl, beobachtet zu werden. Sie sah sich um. Abgesehen von einer Familie, die in der Nähe über die Felsen kletterte, war jedoch niemand zu sehen. Sadie schalt sich, dass sie mal wieder ihrer Phantasie freien Lauf gelassen hatte. Sie nickte der Familie grüßend zu und begab sich wieder hinunter zum Strand. Als sie kurz darauf die grasige Böschung zum Poet’s Cottage hinauf ging, folgte sie einem spontanen Impuls und betrat den großen Friedhof. Generationen von Pencubitt-Einwohnern lagen Seite an Seite begraben, und gotische Gräber und Grabmale hoben sich vor der spektakulären Küstenkulisse ab. Viele waren am Zerfallen und durch Zäune ringsherum geschützt worden.
Sadie stieß bald auf Maxwells Grabstein, eher durch Zufall als durch gezieltes Suchen. Er war verziert mit einem Paar schwarzer Steintauben, und am Fuß lag ein kleiner, bunter Rosenstrauß. Aus Birdies Garten, vermutete sie. Die andere Grabseite war reserviert – für Birdie? Sadie fragte sich, wie es wohl war, in einem Alter zu sein, in dem die Leute damit rechneten, dass man starb. Was ging Birdie durch den Kopf, wenn sie
Weitere Kostenlose Bücher