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Dornentöchter

Dornentöchter

Titel: Dornentöchter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josephine Pennicott
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Maxwells Grab besuchte? Sehnte sie sich nach dem Frieden des Todes? Für alle Ewigkeit neben ihrer großen Liebe zu ruhen? Oder scheute sie sich – selbst in ihrem hohen Alter – davor, diese große, unbekannte Grenze zu überschreiten?
    Während sie weiterhin die Augen nach Schlangen offen hielt, setzte Sadie ihre Erkundungstour fort. Jeder der verwitterten Grabsteine barg so viele Geschichten. Babys in ihren winzigen Gräbern standen für ein ganzes Leben mit Kummer und Trauer für deren Eltern. Ehemänner und Ehefrauen ruhten neben ihren Kindern, und namenlose Grabsteine kündeten wortlos von ungeahnter Trauer und Verlust. Die ganze Bandbreite menschlicher Dramen lag vor ihr, Leben, die nur in den wenigen Worten auf ihren Grabsteinen festgehalten waren. Einige Hasen hoppelten davon völlig unberührt fröhlich umher, und ein paar Schafe grasten in aller Seelenruhe.
    Sadie wusste, wonach sie suchte, wurde jedoch nicht gleich fündig. Es waren die Blumen am Fuße des Grabsteins, die sie schließlich darauf aufmerksam machten, dieselben Rosen wie auf Maxwells Grab. Pearl. Sie war auf Pearls letzte Ruhestätte gestoßen – oder von ihr angezogen worden.
    Sadie stand vor dem Grab ihrer Großmutter und musste den Impuls unterdrücken, den Kopf zu senken und zu beten. Zwischen den Seiten eines Buches schien Pearl so fern wie eine fiktive Figur. Doch hier, auf diesem wilden Friedhof am Meer, lagen ihre sterblichen Überreste. Das machte sie realer. Sadie hatte ein riesiges Denkmal erwartet – einen Stachelranken-Mann aus Stein, eine marmorne Spinne oder Elster –, doch Pearls Grab bestand nur aus einem grauen Steinkreuz, mit Engeln links und rechts, die ihre Hände zum Gebet erhoben hatten. Es wirkte zu traditionell, zu diskret für die Frau, über die Sadie so viel gelesen hatte. Die in den Stein eingemeißelten Worte waren ebenfalls hart:
    Pearl Tatlow
    Ehefrau und Mutter
    die in dieser Gemeinde lebte
    und am Sonntag, den zwölften Juli 1936 ,
    mit Anzeichen von Gewalteinwirkung
    tot aufgefunden wurde.
    DER RUF DES BLUTES
    wird ihn verfolgen bis zu seinem
    schrecklichen, aber gerechten
    URTEIL
    Der Ruf des Blutes wird ihn verfolgen? Sadie schauderte. Während der vergangenen achtzehn Monate war es ihr so vorgekommen, als hätten sich die normalen Grenzen des Lebens irgendwie aufgelöst. Nach Marguerites Tod, als ihre Nerven vom Zerbrechen ihrer Ehe noch völlig blanklagen, war Sadies Leben zu einem dämmrigen Traum geworden, in dem alles und jedes möglich schien. Es fiel ihr immer noch schwer, an die Nacht zurückzudenken, in der ihre Mutter gestorben war. Die Organisation der Beerdigung und die Dankesschreiben an Marguerites Freunde und Verwandte, die gekommen waren oder Kondolenzkarten geschickt hatten, hatten ihr wenig Zeit zum Nachdenken gelassen. Die Erinnerung war in ihrem Gedächtnis weggeschlossen bis zu einem Zeitpunkt, an dem sie sich stark genug fühlte, sie zu bewerten. Obwohl sie getrennt waren, hatte Jack sie auf seine übliche direkte Art darauf angesprochen: Er glaubte, sie erlitte einen Nervenzusammenbruch und wies darauf hin, dass es in ihrer Familie ja eine Vorgeschichte psychischer Erkrankungen gab. Sie müsse Betty zuliebe besser auf sich achtgeben. Obwohl Sadie Jack seine brutale Ehrlichkeit übelnahm, wusste sie, dass er es gut meinte und sich um seine Familie sorgte. Jack hatte seine Fehler, doch hinter seiner Tendenz, sich einzumischen, verbarg sich ein sensibles Herz. Sie hätte sich ihm nie anvertrauen dürfen, aber er war so lange ihr bester Freund gewesen. Innerhalb kurzer Zeit hatte sie ihren besten Freund und ihre Mutter verloren. Die heutige Erkenntnis, dass Betty ebenfalls bereit war, sie zu verlassen, war kaum zu ertragen.
    Sadie wusste nicht, wie lange sie am Grab ihrer Großmutter gestanden hatte, doch als sie sich schließlich losriss, war die Sonne verschwunden und durch unheilverkündende graue Wolken ersetzt worden. Mit einem der typischen dramatischen Wetterumschwünge, für die Tasmanien berühmt war, setzte nun ein Regenschauer ein. Als Sadie sich umdrehte, sah sie eine Gestalt zwischen zwei Gräbern stehen. Es handelte sich um eine Frau in einem langen schwarzen Mantel, und unter der Kapuze war verschwommen ein bleiches, entstelltes Gesicht zu sehen. Es war das Antlitz eines Monsters. Sadies Herz begann schmerzhaft zu rasen. »Hallo?«, rief sie.
    Die verhüllte Frau stieß einen Schrei aus, einen animalischen, gequälten Laut. Sadie stand wie angewurzelt da. Die Frau

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