Dornentöchter
sah, klammerte sie sich an der Tischkante fest und atmete ein paar Mal tief durch, ehe sie etwas gemäßigter fortfuhr: »Schau mich nicht so an, Tricky! Ich bin genauso normal wie du. Ich habe nur solche Angst vor der kommenden Nacht! Es wird uns verschlucken, Tricky. Bei lebendigem Leibe verschlingen. Die Menschen hier glauben, dass der Frieden ewig währen wird, doch das Maul der Hölle öffnet sich. Eine ganze Rasse – das ist so unglaublich entsetzlich. Die Wale müssen ein Zeichen gewesen sein, Tricky. Alle Fischer sagen das. Die Hölle will uns verschlingen. Mich für meine eigene Schlechtigkeit bezahlen lassen!«
Nichts davon ergab einen Sinn. Irgendwann muss sie begriffen haben, dass ich ihr nicht folgen konnte, denn sie hielt inne, um Atem zu schöpfen.
»Spider und ich haben uns mal so sehr geliebt, doch es ist alles vorbei«, murmelte sie schließlich. »Alles verwurstet und zerkocht.«
Ich wiederholte, ich müsse jetzt gehen. Sie nickte ein paar Mal. »Natürlich musst du das«, sagte sie. Sie ging zur Anrichte hinüber, wobei sie beim Gehen etwas schwankte, und kam mit einer kleinen, wunderhübsch eingepackten Schachtel zurück.
»Das ist für dich«, sagte sie. »Du darfst es aber erst morgen aufmachen, nicht heute Abend. Es ist ein Dankeschön dafür, dass du meine Freundin bist. Dafür, dass du zu mir gehalten hast. Dafür, dass du an mich geglaubt hast, als es sonst niemand tat. Ich liebe dich, Birdie.« Sie lachte durch ihre Tränen hindurch. »Du siehst immer noch so aus, als hättest du eine Grapefruit verschluckt. Du wirst dich nie ändern, was? Sag’s einfach, Birdie. Du musst nur was sagen, und er gehört dir. Verlass mich nicht, Birdie. Ich hatte einen schrecklichen Traum, dass ich in diesem Haus ermordet wurde. Verflucht sei diese Wahrsagerin, die ihre morbiden Phantasien überall verbreitet, wo sie geht und steht!«
Sie packte mich und zeigte auf die Kellertür. »Da unten«, flüsterte sie, wobei ihre Stimme nun zitterte. »Da unten erstochen. Mein Blut war überall. Ich konnte mein eigenes Blut riechen und die Stachelranken-Männer haben es aufgeschleckt. Ich werde nicht alt, das habe ich immer gespürt, aber ich will unbedingt leben! Ich muss mit Teddy weggehen, dann werde ich sicher sein! Bitte verlass mich hier nicht, Birdie! Du bist meine einzig wahre Freundin. Ich kann sonst niemandem trauen. Ich habe Angst.« Sie ließ sich auf den Küchenstuhl sinken, den Blick starr auf die Kellertür gerichtet, und Tränen liefen ihr über die Wangen.
Trotzdem habe ich sie verlassen. Ich konnte es keinen Moment länger ertragen. Ich wollte die Nachtluft spüren und friedliche Straßen entlangspazieren, an Häusern vorbeigehen, in denen die Menschen in Vorfreude auf den Weihnachtstag schlummerten. Als ich das Zimmer verließ, rief Pearl mir noch ein weiteres Mal hinterher. Ich blickte nicht zurück.
Als ich tags darauf das Geschenk öffnete, stellte ich fassungslos fest, dass ihr Geschenk aus einem großen dunkelblauen Knopf bestand. Da lag er mit etwas ausgerissenem Baumwollstoff in seiner schicken Schachtel. Was um alles in der Welt sollte das bedeuten?
KAPITEL 14
Das Kricketmatch
Pencubitt, Januar 1936
Ich sah Pearl das nächste Mal am Neujahrstag beim Kricketmatch. Es handelte sich dabei um ein alljährliches Ereignis in Pencubitt. Während Mutter und ich den Sport selbst sterbenslangweilig fanden, freuten wir uns immer auf den Jahrmarkt von Pencubitt, der zugleich mit dem großen Match stattfand, einschließlich Wurfbude, Ponyreiten, einem Clown mit Zaubertricks und Luftballons, vielen weiteren Attraktionen, Schreib- und Zeichenwettbewerben und – das Spektakulärste von allem – der gefürchteten Schlangengrube! Für Mutter war eines der Highlights die Aufführung des Kirchenchors zur Mittagszeit. Und während die Teams den Sieg auf dem Kricketfeld ausfochten, versuchten sich die Hausfrauen von Pencubitt und Burnie gegenseitig mit den besten Biskuittorten, Apfelkuchen, Sandwichs, selbstgebrautem Ingwerbier, Sahnebaisers, Lamingtons und Pasteten zu übertreffen. Alle zogen sich schick an, die Männer Nadelstreifenanzug und Pork-Pie-Hüte, die Frauen ihre besten Kleider, Hüte und Handschuhe. Kinder brachten die paar wenigen Weihnachtsgeschenke mit, die sie, mit viel Glück, vielleicht bekommen hatten, damit ihre Freunde sie bewundern und beneiden konnten.
Ich hatte mein Outfit für diesen Anlass sorgfältig ausgewählt: ein helles, himmelblaues Kleid mit zitronengelben Tupfen,
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