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Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Titel: Dornröschen schlief wohl hundert Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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zu einem demokratischen Bankdirektor der neuen Zeit. Ich hatte bei zweitrangigen Angestellten schon größere und prachtvoller möblierte Büros gesehen.
    Niels Halle saß an seinem hellen, lackierten Schreibtisch und sprach eifrig in ein Diktiergerät. Als ich hereinkam, nickte er freudlos zu einem gewöhnlichen Sprossenstuhl, der allerdings mit Leder gepolstert war. Er fuhr fort zu diktieren. Ich hörte nicht hin. Es klang nicht besonders interessant, und ich hatte noch immer das unangenehme Brummen im Kopf und einen Druck auf den Schläfen.
    Ich sah stattdessen aus den breiten Fenstern. Wir befanden uns im zweiten Stock. Der Regen zeichnete lange Streifen an die Glasscheibe, aber dahinter konnte ich eine geschäftige Straße des Stadtzentrums erkennen: Menschen, die vorbeieilten und Autos, die vergeblich nach Parkplätzen suchten.
    Niels Halle beendete sein Diktat und schaltete das Diktiergerät mit einem energischen Klicken ab. Er sah auf die Uhr. Mit einer kleinen Furche zwischen den grauweißen Augenbrauen richtete er seinen Blick auf mich und sagte: »Tja, Veum, was haben Sie zu Ihrer Entschuldigung zu sagen?«
    »Ich …«
    Er hob eine Hand und unterbrach mich: »Ich will Sie nur darauf aufmerksam machen, dass ich ernsthaft – sehr ernsthaft – überlege, Sie anzuzeigen.«
    »Und mit welcher …«
    »Wenn Sie Lisa gestern nicht besucht hätten, was sie so beunruhigt hat, dass sie – dass dieser sinnlose Unfall geschah … Ich mache Sie dafür verantwortlich, Veum – Sie persönlich.« Er zeigte mit einem langen, schmalen Finger auf mich. Seine Hand zitterte leicht. Seine Augen waren schwarz und seine breiten Lippen angespannt.
    »Ich wollte nur wissen, wie es ihr ging«, sagte ich zahm.
    Er drückte sich schnell mit zwei Fingern die Nasenspitze, zwei Mal hintereinander. Dann fiel die Hand wieder auf die Schreibtischplatte. Er sagte: »Und damit hatten Sie nichts zu tun, Veum. Ich habe Sie engagiert, um Lisa zu finden. Das haben Sie getan, und dafür sind wir Ihnen dankbar. Aber damit ist Ihr Auftrag beendet. Damit hören unsere sämtlichen Verbindungen auf, Veum.«
    »Nicht alle«, sagte ich leise.
    »Ach nein?«, sagte er und sah wieder auf die Uhr.
    »Es ist zehn nach halb elf«, sagte ich. Und fuhr fort: »Nicht alle. Es geschah nämlich ein Mord.«
    »Ja, ja, ja! Aber was geht das uns an? Und nicht zuletzt – was geht es Sie an? In diesem Land ist es, soweit ich weiß, die Polizei, die verdächtige Todesfälle untersucht.«
    »Verdächtige?«
    »Ja«, bellte er.
    »Schon gut, ich habe nur ein wenig gestutzt wegen Ihrer Wortwahl. Aber es stimmt – es ist tatsächlich äußerst verdächtig, wenn man mit einem Messer im Bauch tot aufgefunden wird …«
    Halle stand auf. »Wenn Sie gekommen sind, um Wortklauberei zu betreiben, dann …«
    Ich stand auch auf. »Ich bin nicht hergekommen, um irgendetwas zu betreiben. Ich bin gekommen, weil Sie mich darum gebeten haben, Halle, und ich bin gekommen, um mit Ihnen über Ihre – Korrespondenz zu sprechen.«
    Wir setzten uns wieder, beide gleichzeitig. »Meine …«, sagte er.
    »Ihre Korrespondenz, vor langer Zeit – Ihre Briefe an eine Frau, die ein Kind erwartete …«
    Er sah schnell zur Tür. Es war eine dieser dünnen, modernen Türen, durch die man fast jedes Wort hören konnte. Er sagte leise: »Hören Sie, Veum, könnten wir woanders darüber reden …« Aber dann hielt er plötzlich inne und stieß hervor: »Was in aller Welt wollen Sie damit sagen? Ich werde es auf keinen Fall dulden, dass …« Er streckte die Hand nach dem Telefon aus, um mir zu zeigen, dass er die Polizei anrufen würde. Aber er rief nicht die Polizei an. Ich wusste, dass er nicht die Polizei anrufen würde. Und er wusste, dass ich es wusste. Das machte das Ganze für ihn noch erniedrigender.
    Ich sagte: »Hören Sie zu, Halle. Ich bin nicht auf Ihren Skalp aus. Ganz im Gegenteil. Ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Wenn diese Briefe nichts bedeuten, dann brauchen wir der Polizei auch nichts davon zu erzählen, oder?«
    »Wir?«, sagte er kläglich. »Nichts bedeuten?«, fügte er hinzu, noch kläglicher.
    »Wir wissen beide, dass diese Briefe existieren«, sagte ich. »Wir wissen beide, wer sie geschrieben hat.« Er nickte widerstrebend. »Und wir wissen beide, an wen sie gerichtet waren.« Er sah mich fragend an. Dann hob er resigniert die Hände und sah verzweifelt an die Decke. Ich folgte seinem Blick. Dort oben hing auch eine dieser viereckigen Sonnen. Sie warf ein grelles

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