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Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Titel: Dornröschen schlief wohl hundert Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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beide Hände auf der Tischplatte zu Fäusten geballt. »Es gibt noch andere«, sagte er.
    »Ja, vielleicht«, sagte ich und ging zur Tür. Mit der Hand auf der Klinke drehte ich mich noch einmal um. »Es muss ein merkwürdiges Gefühl sein – von seinem eigenen Sohn erpresst zu werden.«
    Er reagierte nicht, sondern starrte leer vor sich hin, als habe er überhaupt nicht gehört, was ich gesagt hatte.
    Lauter sagte ich: »Was ist eigentlich gestern passiert, Halle? Nachdem Lisa nach Hause kam?«
    Er wandte sich mir zu und sah mich zerstreut an. »Nachdem Lisa …« Er hob die Hände. »Sie war schrecklich aufgeregt und ging ins Bett – wir gaben ihr ein paar Pillen, damit sie schlafen konnte.«
    »Und dann?«
    »Dann?«
    »Was passierte dann? Denn irgend etwas ist passiert – das wissen wir doch.«
    Er sah mich mit glasigen Augen an. »Ich weiß es nicht, Veum. Sie war schrecklich aufgeregt, nachdem Sie – aber – was später passiert ist … Ich … Ich war nicht da!«
    Ich stand nur da und sah ihn an.
    Er sagte: »Ich war bei – einer Sitzung.«
    Ich stand noch immer und sah ihn an. Sah ihn einfach nur an. Hinter mir, durch die dünne Tür, hörte ich das Klappern und Klicken von Tastaturen. Dornröschen wachte wieder auf, wieder auf, wieder auf …
    Ich kehrte Niels Halle den Rücken, öffnete die Tür und ging hinaus. Draußen stand ein gut gekleideter junger Mann mit einer Plastikmappe in der Hand und trippelte ungeduldig auf der Stelle. Er sah aus, als habe er etwas Wichtiges zu sagen, aber nicht zu mir. Als ich ging, hörte ich, dass er schnell an die Tür klopfte und zu Halle hineinging. Ich fand den Weg hinaus.
    Es regnete immer noch. Es schien, als sei die Sonne für immer weggespült worden. Als sei der Tag des Jüngsten Gerichts angebrochen – zumindest fühlte es sich so an.

39
    Vor der Tür des hohen, grauen Hauses in der Skottegate blieb ich stehen. Mir war gar nicht wohl und ich war froh, wieder draußen zu sein.
    Zuerst hatte sie nicht mit mir sprechen wollen und so getan, als wisse sie nicht, wovon ich redete. Dann hatte sie mich hereingelassen – in den Flur. Nicht weiter. Als sei ich ein unwillkommener Vertreter, der sich aufgedrängt hatte – damit die anderen im Haus nicht hörten, worüber wir sprachen. Danach hatte sie mir erzählt, was ich wissen musste. Sie war Studentin und hatte Niels Halle durch eine Freundin kennen gelernt. Er hatte ihr aus einer schwierigen finanziellen Lage geholfen, und er war nett zu ihr gewesen. Dann hatte sie sich umgesehen. Der Flur war dunkel. Sie war rothaarig, trug eine Brille mit Goldrahmen und hatte ihr Haar zu einem Zopf geflochten, den sie wie eine Acht auf dem Hinterkopf befestigt hatte. Doch, sie konnte bestätigen, dass Niels Halle an dem Tag, an dem Abend, bei ihr gewesen war. Nein, sie hatte ihn seitdem nicht gesehen. Er hatte sie nicht gebeten, genau das zu sagen – wenn ich das andeuten wollte. Sie errötete im Halbdunkel. Genau das hatte ich angedeutet. Und er war am Abend zuvor nicht bei ihr gewesen. Nicht bei ihr. Dann begann sie zu weinen. Sie stand mit den Händen vor dem Gesicht da und weinte in den dunklen Flur: eine zarte, junge Frau in einer grünen Bluse, grünen Samthosen und mit grauen Filzpantoffeln an den Füßen. Ich konnte sie nicht trösten. Ich sagte, dass es mir wirklich Leid täte. Dann ging ich. Die Treppen hinunter. Auf die Straße. Es hatte aufgehört zu regnen.
    Die Skottegate hatte sich nicht sehr verändert. Auch hier gab es jetzt mehr Autos, wie überall. Aber wenn man sich die Autos wegdachte, konnte man sich gut zwanzig bis dreißig Jahre zurückdenken. Als wäre das ein Trost.
    Ich ging über das Kloster zur Holbergsalmenning. Oben beim Kloster zerrte der Wind an meinen Haaren. Die grauen Wolken zogen tief über die Stadt. Es würde nicht lange dauern, bis der Regen erneut einsetzte.
    Ich ging in die Fußgängerzone und spendierte mir einen Kaffee in einem der dortigen Cafés. Ich wollte nichts essen. Hunger hatte ich keinen.
    Hinterher ging ich in ein Musikgeschäft, suchte nach einer Klaviersonate von Schubert und fragte, ob ich sie anhören konnte. Ich habe einen einfachen Musikgeschmack. Beatles, alter Jazz, Brel und Schubert. Ich stand eine Weile unter Kopfhörern am Tresen und fühlte mich wie ein Hamburger.
    Als ich es lange genug hinausgeschoben hatte, ging ich ins Büro. Vor dem Eingang saß ein unauffälliger Mann in einem schwarzen VW und las in einer Zeitung. Ich lächelte leise vor mich hin, als

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