Dornröschen schlief wohl hundert Jahr
…«
»Ja?« drängte er mich, weiterzusprechen.
»Dann wurde sie fast hysterisch, und wir – wir wurden unterbrochen. Ihre Eltern kamen, und ich musste gehen. Und dann, heute Abend, vor …« Ich sah auf die Uhr. »Vor ungefähr einer Stunde rief sie mich plötzlich an, von der Telefonzelle unten am Bahnhof, die bei der Kunsthandwerkschule, nehme ich an, und sagte, sie müsste mit mir sprechen – sie hätte mir was Wichtiges zu erzählen … Aber dann … Dann klang sie ganz undeutlich, als ob – als ob sie plötzlich jemanden entdeckt hätte, und dann … Dann wurde das Gespräch unterbrochen, und wir – ich stürzte los, hierher. Ich hörte die Sirenen, und als ich ankam – tja, das weißt du selbst.«
Er nickte düster. »Sie hat also nichts wirklich Wichtiges gesagt?«
»Nein. Es ging so schnell.«
»Auch nicht, wen sie entdeckt hatte?«
»Nein, sie hat nicht einmal konkret gesagt, dass da jemand war – ich habe es nur so gedeutet – jetzt – hinterher …«
»Und heute Nachmittag? Als du sie besucht hast. Was hat sie da erzählt?«
Ich siebte schnell meine Gedanken durch. »Nicht – sehr viel. Von ihren Eltern, aber vor allem von Peter natürlich. Wie sie zusammengekommen waren, wie sie zu den Drogen kamen, wie er sie zur Prostitution gezwungen hatte – um Geld zu beschaffen …«
Er entblößte seine Zähne. »Charmanter Typ.«
Ich nickte. »Und von seiner Schwester. Ingelin. Du hast sie sicher …«
Er nickte. »Sie war die erste der beiden Frauen, nach denen wir gesucht haben. Die ihn an dem Abend, als er ermordet wurde, besucht haben. Und nun tu nicht so, als seiest du verwundert, Veum – jeder Idiot, der ihr begegnet ist, musste das sehen.«
»Aber ich …«
»Ja, ja, ja! Mach weiter.«
»Ich weiß nicht, ob es noch was gibt. Sie hat erzählt, dass er irgendwann mehr Geld zur Verfügung hatte – ungefähr letzten Frühling war das – aber sie hatte angeblich keine Ahnung, woher er es bekam.«
»Angeblich«, wiederholte er. »Vielleicht wusste sie es doch. Und vielleicht wusste jemand anders, dass sie es wusste. Und fand, dass sie zu viel wusste.«
»Ja,« sagte ich.
»Genau«, sagte er. »Aber wer, Veum, wer?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Da bin ich genauso ratlos wie du, Vadheim.«
»Ist das möglich?«, fragte er, eher resigniert als sarkastisch.
Nach einer Pause sagte ich: »Hast du oben in der Klinik nachgefragt, wie sie abhauen konnte?«
»Sie war nicht da.«
»Sie war nicht da? Wie meinst du das.«
»Nachdem irgendein Typ – offensichtlich du – am Nachmittag zu ihr reingekommen war, hat Halle ein riesiges Geschrei veranstaltet und verlangt, sie mit nach Hause zu nehmen. Sie haben ihr einen Koffer mit Medikamenten mitgegeben und ließen sie gehen. Sie konnten nichts anderes tun.«
»Also war sie mit anderen Worten heute Nacht zu Hause? Oder hätte dort sein sollen?«
»Ja. Zumindest eine Zeit lang.«
Ich dachte nach, und nach einer Weile wiederholte er: »Zumindest eine Zeit lang.«
Ich sah auf. Er hielt die Plastiktasse mit seinen langen, dünnen Fingern fest. Sie war jetzt so gut wie leer, und er rollte sie hin und her.
Das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Er beugte sich vor und nahm ab. »Ja, bitte?«, fragte er in die Muschel. Eine andere Stimme sprach. »Aha,« sagte er, und dann: »Gut, gut, gut.« Schließlich sagte er: »Ich danke Ihnen. Vielen Dank.« Darauf legte er auf und sah mich wieder an. »Sie wird überleben,« sagte er. »Keine größeren inneren Verletzungen. Ein Arm ist gebrochen, zwei Rippen gebrochen und ein Vorderzahn ausgeschlagen. Aber …«
»Ja? Aber …?«
»Sie hat eine kräftige Gehirnerschütterung, die zusammen mit dem Schock dazu geführt hat …«
»Ja?«
»Sie ist bewusstlos, Veum. Und sie haben keine Ahnung, wann sie wieder aufwacht. Das ist unmöglich vorherzusehen. Vielleicht morgen – vielleicht auch erst in zwei Jahren. Je nachdem.«
»Tja dann! Dann sind wir wieder allein, Vadheim. Und müssen uns selbst helfen.«
» Wir « , sagte Vadheim und legte sich die Hand flach auf die Brust. »Wir, nicht du, Veum. Du wirst nach Hause gehen und dich ins Bett legen und den ganzen Fall vergessen – bis wir kommen und dich etwas fragen. Ist das klar?«
Ich sagte: »Ihr Vater, Niels Halle, hat mich um ein Gespräch gebeten – morgen. Ich weiß nicht, ob die Abmachung noch gilt, nach dem, was heute geschehen ist, aber – ich gehe davon aus, dass er vor hat, mir eine Art Strafpredigt zu halten.«
Vadheim
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