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Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Titel: Dornröschen schlief wohl hundert Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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lächelte zaghaft. »Tja, ich kann dir wohl nicht verwehren, eine Strafpredigt entgegenzunehmen, Veum. Aber ich kann dir verbieten, unsere Arbeit zu übernehmen, klar? Das verstehst du, oder? Wir bleiben in Kontakt?«
    »Klar,« sagte ich, »tun wir.«
    Es war noch immer dunkel draußen, aber die Dunkelheit hatte einen grauen Schimmer bekommen, einen Schimmer, der erzählte, dass auch diese kurze Juninacht dabei war, zu verblassen. Es war zwischen halb zwei und zwei Uhr, und die Stadt lag so tot und still vor seinem Fenster, dass wir uns ebenso gut auf dem Grunde des Meeres hätten befinden können.
    Ich sagte: »Warum hast du aufgehört, Gedichte zu schreiben, Vadheim?«
    Er sah zunächst ein wenig überrascht aus, als sei es lange her, dass ihm jemand diese Frage gestellt hatte. Eine Weile saß er stumm da und sah vor sich hin, sah über meine Schultern und aus dem Fenster, auf die Hauswand auf der anderen Straßenseite. Schließlich sagte er: »Warum hören Menschen auf, Dinge zu tun, die sie mögen, Veum?« Dann stand er auf und ging zur Tür, wie zum Zeichen, dass unser Gespräch beendet war.
    Er hielt mir die Tür auf und ich ging hinaus. »Gute Nacht, Veum,« sagte er weich.
    »Gute Nacht,« sagte ich und schloss die Tür hinter mir.

38
    Ich hatte nicht viele Stunden geschlafen, als mein Wecker klingelte. Regen peitschte an die Fensterscheibe. Der Raum lag in einem grauen Halbdunkel. Meine Haut roch säuerlich, und meine Zunge fühlte sich an wie eine geraspelte Rübe. Es war kein schönes Erwachen.
    Ich setzte meine nackten Füße auf den kalten Boden und blieb, das Gesicht in den Händen, vornübergebeugt sitzen. In meinem Kopf brummte es. Unmelodisch und schräg, wie von einem Jahrmarktkarussell weit weg, erreichten mich Brocken eines Liedes: Dornröschen schlief wohl hundert Jahr, hundert Jahr, hundert Jahr …
    Es wurde kalt in meiner Brust. Ich griff nach dem Telefon und wählte die Nummer der Wache. Es war kein vernünftiger Mensch zu sprechen. Vadheim war nach Hause gegangen und hatte gebeten, nicht gestört zu werden. Nein, sie konnten mir überhaupt keine Auskunft geben.
    Ich bedankte mich für ihre Hilfe – so säuerlich ich konnte – und knallte den Hörer auf.
    Ich rief im Haukeland-Krankenhaus an und fragte, wie es Lisa ging. Sie versuchten, mich zur richtigen Station durchzustellen, aber ich kam nicht weiter als zur Zentrale. Danach hing ich in irgendeiner Warteschleife fest, mit dem Piepen des Telefonnetzes als einziger Unterhaltung. Da wuchs die Hecke riesengroß, riesengroß, riesengroß, da wuchs die Hecke …
    Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und rief bei ihr zu Hause an.
    Niels Halle nahm fast auf der Stelle ab. Er klang morgenfrisch und gut gelaunt. »Hallo, ja bitte?«, sagte er.
    »Hier ist Veum,« sagte ich. »Ich wollte nur hören …«
    Er unterbrach mich. »Hatten wir nicht zehn Uhr dreißig gesagt?«
    »Doch, aber ich wollte fragen, ob die Verabredung noch steht – in Anbetracht der Umstände.«
    »Ich breche nie eine Verabredung, Veum. Und ich habe noch mehr Termine heute.«
    »Aber Ihre – Lisa, wie geht es ihr? Ist sie aufgewacht?«
    »Nein. Sie ist noch immer bewusstlos. Und es hilft ihr nicht sonderlich, wenn ich da oben sitze und sie anschaue, oder?« Nach einer kurzen Pause fügte er mit etwas milderer Stimme hinzu: »Meine Frau ist natürlich bei ihr, also … Halb elf, Veum. Bis dann.«
    Er legte auf, und ich saß mit dem Hörer in der Hand da. Da kam ein junger Königssohn, Königssohn, Königssohn …
    Der Regen flüsterte leise an der Scheibe, als wolle jemand herein. Aber niemand war da.
     
    Um zu Niels Halles Büro zu kommen, musste man eine große, offene Bürolandschaft durchqueren, in der junge, gut gekleidete Menschen beiderlei Geschlechts mit wichtigen Papierstapeln unter dem Arm und mit Gesichtern wie stolzierende Pinguine von Tisch zu Tisch hasteten. Ich fühlte mich alt und abgerissen, als hätte ich Rostflecken auf dem Lack. An der Decke hingen viereckige Sonnen und schienen mit brutaler Kraft auf die graugrünen Büromöbel und die frisch polierten Menschen. Das Ganze erinnerte an eine Art Zukunftslandschaft, so als seien die Menschen hier eigentlich nicht ganz wirklich, sondern sähen nur so aus. Irgendwo hatten sie eine versteckte Schalttafel, wo sie Knöpfe drücken und sie in die eine oder andere Richtung dirigieren konnten. Manche von ihnen konnten sogar lächeln.
    Niels Halles Büro war nicht groß und spartanisch eingerichtet. Das machte ihn

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