Dornröschen schlief wohl hundert Jahr
Ost-Jütland hing der Morgendunst. Die Getreidefelder glichen gelbweißen Briefmarken, und ganz Dänemark war eine große, grüne Postkarte, die jemand an die Ewigkeit schicken wollte. Wie viel schöner alles von hier oben aussah. Die Städte lagen ohne Rauch- und Dunstschicht da und erinnerten an kleine Märchendörfer. Die breiten Autobahnen sahen aus wie stille Flüsse, die langsam durch eine grellgrüne Landschaft flossen, und selbst die verfallenen, verlassenen Höfe draußen auf dem Land bekamen etwas Geheimnisvolles und Verlockendes. Das Meer spülte an die Ufer, immer stärker, als würde es Dänemark auffressen, Stück für Stück, je weiter wir nach Norden kamen. Zum Schluss war nur noch der äußerste Sandzipfel von Skagen übrig, und dann war Ende. Dänemark blieb wie ein schnell verschwindendes Kielwasser hinter uns zurück, und unter uns gab es nur noch Meer: graues Meer, das ab und zu weiß aufblitzte und die graue Stahlzigarre oben unter dem Himmel anfauchte; ein grauer Meeresteppich, der nur selten von einem kleinen Fischkutter oder einer plumpen, viereckigen Autofähre belebt wurde.
Und Lisa sagte kein Wort.
Ungefähr auf der Hälfte des Weges sagte sie, sie müsse aufs Klo. Ich begleitete sie und blieb vor der Tür stehen. Die Stewardess begriff, dass wir doch nicht Vater und Tochter waren, und ich ahnte einen Hauch von Eis in ihrem Blick, als sie mit einem Bataillon grüner, kurzgewachsener Flaschen auf dem Weg zu einer Männergesellschaft ganz vorne im Flugzeug vorbeiging.
Lisa kam wieder heraus, und ihr Gesichtsausdruck war resigniert. Sie ging mir voran zu unseren Plätzen und sagte noch immer kein Wort.
Der Verkehr auf dem Meer unter uns wurde dichter, und dann erhob sich Norwegen wie ein blaugrauer Schatten im Nordwesten. Es war tatsächlich ein Glück, dass es ein Land aus Bergen und Gestein war, das sich dort erhob, und nicht ein Land aus Sand, bei dem man jeden Augenblick fürchten musste, dass es einem unter den Füßen weggeschwemmt würde. Norwegen hatte etwas Sicheres, aber das empfand ich wahrscheinlich nur so, weil ich Norweger bin. Ich hätte wohl kaum dasselbe empfunden, wenn ich Pakistani gewesen wäre.
Über dem Inland hingen schwere, graue Regenwolken, und die Küste wurde unter uns wie mit einem riesigen Radiergummi weggewischt. Über uns war klarer, blauer Himmel und eine ewig brennende Sonnenscheibe, unter uns ein wogender grauer Teppich, als sei das Meer zu uns heraufgestiegen und hätte sich Norwegen und die Berge und die Wälder und alles andere mit seinem gigantischen Maul einverleibt.
Die Herren im vorderen Teil des Flugzeuges lachten laut und lärmend über etwas, das wohl ein schmutziger Witz gewesen war, und ich hörte die Stewardess, professionell und kühl mitlachen. Das Lachen war aus ihren Augen verschwunden, als sie an uns vorbeikam.
Ich sah auf die Uhr und versuchte, mir Lisas Vater vorzustellen. Wie hatte er ausgesehen, in der halben Stunde in meinem Büro? Ein großer, hagerer, recht gut aussehender Mann. Gut gekleidet, in einem grauen Anzug mit diskretem Schlips, auf dem Weg ins Büro, der kurz zu einem morgendlichen Gespräch bei dem Privatdetektiv hereingeschaut hatte, mit dem er am Tag zuvor telefoniert hatte: Es geht um meine Tochter Lisa, sie ist verschwunden … Abteilungsleiter in einer der ehrwürdigen Banken der Stadt, ein Mann mit korrektem Äußeren und zweifellos einem Haufen wichtiger Papiere in seinem schwarzen Aktenkoffer, den er sanft neben seinem Stuhl absetzte … aber mit einem merkwürdig ausgehungerten Gesichtsausdruck. Graues, fast weißes Haar und eine Kinnmuskulatur, die ständig in Bewegung war. Ein Mann Mitte fünfzig mit leicht abwesendem Gesichtsausdruck, als würde er die ganze Zeit dem Geräusch lauschen, das Geldscheine machten, wenn sie gezählt wurden. Er verstand seine Tochter nicht, hatte er gesagt. Er und seine Frau hatten versucht, ihr ein ordentliches Zuhause zu bieten, eine gute Erziehung. Er hatte vielleicht die meiste Zeit zu viel zu tun gehabt, hatte etwas zu viele Stunden im Büro verbracht, oft Überstunden gemacht, aber – ein gutes Zuhause hatte sie, sie bekam, was sie wollte und wie sie es wollte. Er und seine Frau konnten es nicht verstehen: »Dass Lisa, unsere Lisa … Unsere zwei ältesten Kinder waren ganz normal …«
Ich seufzte. Er habe ihr einen Platz in der psychiatrischen Klinik besorgt, hatte er gesagt, sie hätten versprochen, alles zu tun, was in ihrer Macht stünde. Sie hätten die Hoffnung
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