Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Titel: Dornröschen schlief wohl hundert Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
Vom Netzwerk:
noch nicht aufgegeben, weder seine Frau noch er, hatte er gesagt, und ich hatte mich gefragt, was für eine Frau seine Frau war. Eine dekorative Puppe, die bei festlichen Gelegenheiten aus dem Schrank geholt wurde? Eine aktive Vereinsnudel, in der Führungsschicht lokaler Wohltätigkeitsvereine, Hausfrauenvereine, konservativer Frauengremien?
    Feine Dame oder Frauenrechtlerin? Hatte sie Zeit für ihre Tochter oder nicht? Eltern kommen selten allein, leider. Die allermeisten treten in Paaren auf, und es ist leider nur allzu selten, dass diese Paare zusammenpassen. Aber das merkt man erst nach einer Weile, wenn man die ersten Schürfwunden davongetragen hat.
    Der Pilot sagte uns über Lautsprecher, dass wir die Sicherheitsgurte anlegen sollten, und einen Augenblick später tauchten wir in den grauen Brei ein. Regen schlug in waagerechten Streifen gegen die Fenster, und das Wolkeninnere schob sich wie schmutzige Watte gegen das Glas. Lisa wurde in dem künstlichen Licht immer blasser. Ich war froh, dass ich mich selbst nicht sehen konnte: die Bartstoppeln von gestern, die Falten der Nacht, die Spuren der Schlaflosigkeit unter den Augen.
    Dann waren wir mit einem Mal unter der Wolkendecke, und wie durch ein Wunder hingen wir am Himmel über Fløien, dem Byfjord, Askøy und dem Lyderhorn – in dieser Reihenfolge – ein graues und frisch gewaschenes Bergen lag unter uns, und wir schwebten auf Flesland herab, nahmen die Landebahn mit einem routinierten kleinen Hüpfer, segelten durch die Landschaft, machten eine überraschende Pirouette und segelten zurück in die entgegengesetzte Richtung, ein wenig langsamer jetzt, und noch ein bisschen – dann hielten wir an. Und dann kamen die ersten Sekunden Stillstand, die es immer am Ende einer Flugreise gibt, weil alle Passagiere ein heimliches Gebet sprechen und dafür danken, dass sie auch dieses Mal wieder heil angekommen sind.
    Ich führte Lisa aus dem Flugzeug, wie ein Vater seine Tochter zum Altar führt. Die Stewardess nickte ihr aufmunternd zu, und das konnte sie auch gebrauchen. Ich bedankte mich bei ihr, und sie hoffte, »uns bald wieder an Bord begrüßen zu dürfen«. Aber ich hatte das Gefühl, es wäre ihr lieber, wenn ich zu Hause bliebe.
    Es regnete in Flesland, und wir senkten den Kopf gegen den Wind und gingen schnell in Richtung Ankunftshalle.

7
    Eine Ankunftshalle ist ein kühler Ort. Die Einrichtung (wenn es denn eine gibt) ist kalt und unpersönlich, denn die Ankommenden sollen nur durch den Zoll und dann gleich weitergehen, und an den Wartenden ist sowieso nichts zu verdienen. Die Wände sind kalte Mauern, die Möbel stereotyp und Massenware, wie im Wartezimmer einer Firma für Büromaschinen.
    Ich begleitete Lisa zu den zwei Menschen, die auf sie warteten. Lisa blieb stehen und sah zu Boden, und es entstand eine peinliche Stille. Die Frau, die ihre Mutter sein musste, legte die Arme um ihren Hals und drückte ihren Kopf an ihre Schulter. »Lisa!«, stieß sie hervor und Tränen traten ihr in die Augen. Lisas Vater sah mich betreten an.
    Lisas Mutter hatte ein rundes, konturloses Gesicht mit Säcken unter den Augen und bitteren Falten um den Mund. Ihre Lippen waren dünn und schmal, ihre Augen hell und blau unter der silbrig glänzenden Tränenschicht. Es war ein Gesicht, an das man sich nur schwerlich würde erinnern können, wenn sie sich abwandte, und das man nach fünf Minuten wieder vergessen hätte. Ihr Haar war grau wie Eisen mit weißen Streifen wie von Bruchschäden. Sie trug einen blaugrauen Mantel, der nicht zum Bankkonto ihres Mannes passte.
    »Darf ich dir Veum vorstellen, Vigdis«, sagte ihr Mann.
    Sie sah mich verschreckt an. Lisa stand nach wie vor starr und steif in ihrem Arm. Sie ließ sie vorsichtig los, als habe sie Angst, ihre Tochter würde sich wieder in Luft auflösen. Sie reichte mir ihre Hand und sagte: »Vigdis Halle.« Ihre Stimme war schwach und ihre Hand kraftlos.
    Lisas Vater strich sich mit einer sehnigen Hand über das magere, lange Gesicht und sagte: »Wir haben unseren Wagen da vorne stehen. Ich möchte Sie gern bitten, mit uns zu fahren, Veum. Ich würde gerne hören …«
    Ich nickte.
    Dann verließen wir die Ankunftshalle. Lisa ging mit schlurfenden, mechanischen Schritten. Ihre Mutter trippelte nervös neben ihr her. Ihr Mund bewegte sich, aber es kam kein Laut heraus.
    Ihr Vater bewegte sich auf eine schlaksige, jungenhafte Weise. Er trug einen eleganten hellen Popelinmantel, zweireihig und mit Gürtel. Ich ging ein

Weitere Kostenlose Bücher