Dornröschen schlief wohl hundert Jahr
wartete, Ingelin …
»Und du hast nie jemand anders getroffen? Bei ihm?«
»Jemand anders? Nein, wer sollte das gewesen sein? Solche wie diese Frau?«
»Welche Frau?«
»Die, die gesucht wird, natürlich!«
»Ja?«
»Nein. Ich war immer allein da. Ich kam mit dem Essen, und wir saßen eine Weile und redeten, und dann ging ich wieder.«
»Worüber habt ihr geredet?«
»Über … alles Mögliche. Über – wie es zu Hause war. Darüber wie verzweifelt Mama und Papa immer waren, wenn er verschwand. Das – das hörte er irgendwie immer gern. Dann lächelte er ein bisschen, irgendwie so – komisch. Verstehen Sie?«
»Wusstest du, dass er Besuch von anderen Frauen bekam?«
»Nein.« Sie schüttelte den Kopf und sagte noch einmal: »Nein.«
»Aber von Peter und Lisa wusstest du?«
Ihre dunkle Gesichtsfarbe wurde noch dunkler, ihre Lippen wurden schmal, und sie sah an mir vorbei, auf eines der Plakate an der Wand. »Ja«, flüsterte sie. »Das war ja der Grund, warum Lisa nicht mehr hierher kam.«
»Erzähl mir – was ist eigentlich passiert?«
»Passiert?«
»Zwischen Peter und Lisa. Sie war doch deine Freundin, und er war viel älter als sie.«
Wieder der frühreife Ausdruck. »Manche Frauen bevorzugen reife Männer.«
Ich lächelte resigniert. »Aber Lisa war keine Frau. Sie war ein kleines Mädchen. Und Peter war kein reifer Mann, er war ein Junge.«
Ihr Mund wurde noch schmaler. »Junge Menschen haben auch Gefühle«, sagte sie. »Wie die Erwachsenen.«
»Tja – okay, aber trotzdem …«
»Und außerdem weiß ich nicht, was passiert ist. Ich war nicht da.«
»Wann?«
»In dem Sommer. In dem Sommer, als Peter allein in der Stadt blieb und Lisa nicht mit uns aufs Land fahren durfte, weil – weil – ich weiß nicht – Mama hat nie gesagt – aber sie sagte, Lisa könnte in dem Jahr nicht mit uns kommen. Und als wir zurückkamen, da war alles anders. Peter war anders, und Lisa – sie redete gar nicht mehr mit mir. Nicht richtig. Sie sagte: ›Du verstehst gar nichts vom Leben, Ingelin.‹ Das sagte sie. ›Was meinst du?‹, fragte ich. ›Ich bin genauso alt wie du.‹ ›Du wirst es noch früh genug begreifen‹, antwortete sie. Und dann kam sie mich nie mehr besuchen. Aber Peter und sie … Manchmal sah ich sie in der Stadt. Nie allein. Immer zusammen mit anderen. Eine Clique, und Lisa gehörte zu den jüngsten. Sie standen manchmal – unten am Ole Bulls Platz, und wenn ich vorbeiging, sahen sie mich nie. Und ich habe mich nie getraut, zu ihnen zu gehen, weil sie ziemlich schräg aussahen.«
»Peter und Lisa.«
»Die anderen. Aber – doch, die auch.«
»Aber hast du nicht schon damals – begriffen, was da passierte? Hat Lisa nie etwas gesagt – dass sie in Peter verliebt wäre?«
»Na ja. Nein, aber wir – wir haben darüber Witze gemacht. Mann, sieht der gut aus, sagte sie immer und verdrehte die Augen, und dann haben wir gelacht. Wir haben gelacht.« Ihre Stimme klang ein wenig traurig, und ich begriff, dass sie, obwohl sie erst sechzehn war, schon gelernt hatte, dass das, was ist, nicht ewig dauert, sondern schnell vorbei sein kann – und weiter nichts.
»Deine Mutter und dein Vater – sie haben ziemlich heftig darauf reagiert, dass Lisa und Peter zusammenkamen …«
Sie nickte. »Ja, aber – wissen Sie, es war ja auch irgendwie komisch.«
»Du meinst den Altersunterschied?«
»Nein!«, sagte sie ärgerlich. »Aber, Mama und Halle. Lisas Vater …« Sie sah mich mit ihren großen Augen an.
»Ja?«
»Die waren ja – sie waren doch selbst mal verlobt, vor langer, langer Zeit.«
»Oh?« Wieder fühlte ich mich zurückversetzt in eines von Halles Wohnzimmern, wo beide Ehepaare versammelt waren. Die angespannte Stimmung zwischen ihnen und dann Vera Werner, die zu Niels Halle sagte: ›Du bist ein Schaf, Niels, und das warst du schon immer.‹. »Und wann war das?«
»Oh, ich weiß nicht so genau. Es ist lange her. Lange bevor Peter geboren wurde und die Kinder von Halles. Lisa ist ja die jüngste. Die anderen sind erwachsen.«
»War das – hat deine Mutter dir das erzählt?«
Sie biss sich auf die Lippe. »Nein. Peter hat es einmal erzählt … Lisa war hier, und er sagte – wie um sie zu ärgern, glaube ich –, dass ihr Vater und Mama mal – ein Liebespaar waren. Aber Lisa wurde so komisch und lief einfach raus und nach Hause. Dabei war das lange, bevor das zwischen ihr und Peter angefangen hat.«
»Und später?«
»Später haben wir nie wieder darüber
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