Dornröschen schlief wohl hundert Jahr
»Veum?«
»Vera«, sagte Werner, »solltest du – dir nicht was anziehen …«
»Es war nicht meine Schuld, Veum … dass er so geworden ist. Sehen Sie sich nur Ingelin an, mit ihr ist alles in Ordnung. Wo ist sie, Håkon?«
»In ihrem Zimmer, Vera. Sie versucht, sich auszuruhen.«
»Ja. Sie ist so lieb, so brav, Ingelin. Sie sollten sie kennen lernen, Veum.«
»Vera«, sagte ihr Mann. »Ich habe gerade zu Veum gesagt, dass ich glaube, wir sollten Ingelin jetzt nicht stören, wo sie …«
Sie wiederholte, stur wie ein kleines Kind: »Er muss sie kennen lernen. Er soll sehen, dass wir auch solche Kinder großziehen können.« Sie streckte mir ihre rechte Hand entgegen, als wolle sie mich nach oben führen.
Ich sagte: »Ich will mich nicht aufdrängen«, und warf Werner einen entschuldigenden Blick zu.
Er sagte: »Darum geht es nicht!«
Sie sagte: »Sie drängen sich nicht auf, Veum. Sie müssen sie kennen lernen. Jetzt.«
»Sie ist ganz benommen von den Beruhigungsmitteln«, sagte Werner leise und nickte zu seiner Frau hin.
Ich sagte: »Dann ist es vielleicht am besten, auf sie zu hören.«
»Vera«, sagte er und fasste sie am Unterarm. »Komm, ich bringe dich wieder nach oben. Du musst dich ausruhen.«
Sie schlug seine Hand weg. »Nein, Håkon, nein! Veum und ich – wir werden zu Ingelin raufgehen. Du kannst dich ausruhen. Hier.«
»Ich denke, ich sollte besser mitkommen.«
Sie wurde krebsrot im Gesicht und zeigte mit einem zitternden Zeigefinger auf ihn. »Du bleibst hier, Håkon!« Sie atmete schwer.
»Herrgott im Himmel! Sie sehen, Veum?« Er sah mich resigniert an.
Ich sagte: »Frau Werner, vielleicht ist es am besten …«
Sie griff nach meiner Hand und zog mich zur Tür. »Sie kommen mit mir, Veum. Jetzt, sofort.«
Ich hatte keine andere Wahl als ihr zu folgen. Håkon Werner blieb tatsächlich im Wohnzimmer. So viel Macht hatte sie also. Ich hörte seine Kaffeetasse klirren, hinter uns.
Vera Werner führte mich in die obere Etage.
20
Ingelin saß mit angewinkelten Knien und einem Buch auf dem Schoß auf ihrem Sofa. Sie trug eine dunkelrote Cordhose und eine weiße Hemdbluse. Ihr Haar war lang und dunkel, und zwei goldene Haarspangen über den Ohren hielten es zurück. Das Buch, in dem sie las, war Der Ekel von Sartre.
Sie sah auf als wir hereinkamen. Ihr Gesicht war noch ein Entwurf dessen, wozu es sich einmal entwickeln würde. Ihre Nase war klein und stupsig, ihr Kinn herzförmig und ohne Charakter, ihre Augen groß und braun und weiter nichts. Ihr Mund lag zusammengefaltet wie ein kleines Vogeljunges unter ihrer Nase, weich und fast konturlos.
Ihr Körper war mager und schlaksig, die Brüste klein. Ich verstand sehr gut, warum Werner nicht wollte, dass ich sie kennen lernte. Es war nicht schwer zu erkennen, wie gut eine der beiden Personenbeschreibungen der Polizei auf sie passte.
Vera Werner sagte: »Ingelin, mein Kind, du musst Veum begrüßen.«
Das Mädchen erhob sich gehorsam, gab mir höflich die Hand, machte einen kleinen Knicks und sagte: »Guten Tag. Freut mich.«
Ich lächelte vorsichtig und sagte: »Mich auch.« Ein gesunder, guter, unparfümierter Jungmädchenduft ging von ihr aus.
»Veum ist …« Vera Werner suchte nach dem richtigen Wort. Dann unterbrach sie sich selbst und sagte: »Sozusagen … Ich fühle mich nicht besonders gut – ich glaube, ich …«
Ich machte einen Schritt auf sie zu. »Soll ich …«
Sie sah mich verlegen an und sagte: »Danke – nein. Ich werde mich – ich finde – Sie finden den Weg nach unten selbst, Veum?«
Ich nickte und blieb stehen. Sie verließ schwerfällig das Zimmer, mit abgehackten Bewegungen, wie ein Abschleppboot mit Motorschaden.
Ingelin sah mich altklug an und sagte: »Mama hat das alles sehr mitgenommen. Aber Peter war trotz allem ihr Lieblingskind.« Es lag keine geschwisterliche Eifersucht in ihrer Stimme, es war einfach eine nüchterne Feststellung.
»Hat es dich denn nicht mitgenommen?«, fragte ich.
Sie zuckte mit den Schultern. »Doch, natürlich. Aber …«
»Ich meine, du warst schließlich die Letzte, die ihn lebend gesehen hat …«
Sie stand still und sah mich an, mit einem verdutzten Gesichtsausdruck. »Sind Sie von der Polizei? Ja, ich habe auf euch gewartet. Als ich es im Radio gehört habe. Ich wollte euch selbst anrufen, aber Papa hat gesagt – Papa hat gesagt, das sei nicht notwendig. Dass es Mama nur beunruhigen würde, jetzt, so schnell. Dass wir alles nach und nach erledigen würden.«
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