Dornröschen schlief wohl hundert Jahr
Die Feuchtigkeit legte sich wie Tau auf meine Windschutzscheibe. Ich kurbelte das linke Fenster herunter und spürte, wie der schwere, süße Duft aus all den feuchten Gärten in mein Auto hineinzog und meinen Kopf anfüllte. Die Häuser dieser Straße lagen gut versteckt hinter hohen Hecken. Es schien, als wollten die Menschen, die darin wohnten, sich mit ihren Geheimnissen so weit wie möglich von der Straße zurückziehen.
Mit mehreren Personen hätte ich gerne geredet. Ich konnte mir zum Beispiel gut vorstellen, mit Niels Halle zu sprechen. Mein Interesse an der alten Beziehung zwischen ihm und Vera Werner war geweckt. Solche Beziehungen hinterlassen immer Spuren – irgendwo, irgendwie. Und ich konnte mir auch sehr gut vorstellen, noch ein paar Worte mit Lisa zu wechseln, zu versuchen, mir ein genaueres Bild von den Zusammenhängen zu machen – und dem, was zwischen Peter und ihr gewesen war. Aber es war nicht der Tag, um mit irgendwem zu sprechen. Niemand würde in der Laune sein, auf meine Fragen zu antworten, und Vadheim würde es nicht gefallen, wenn ich mit etwas anfing, das mehr und mehr nach Ermittlungen in einem Mordfall aussah.
Ich musste mich also auf Jonassen konzentrieren.
Sein Haus lag auf eine gewisse Weise ebenfalls zurückgezogen. Aber er hatte es in einer Gegend gebaut, wo die Grundstücke größer und die Häuser deshalb noch weiter von der Straße entfernt waren. Er hatte einen Garten angelegt, eine Grube für einen Swimmingpool ausgehoben, seine hübsche Frau mitten im Garten platziert, am Rande des Swimmingpools – wie ein Stillleben aus einer Reklamebroschüre –, weit von der Straße, weit von den Nachbarn entfernt. Also hatte er sicherlich auch seine Geheimnisse.
Irene Jonassen war möglicherweise ein Schlüssel zu diesen Geheimnissen. Aber auch sie würde an diesem Freitag ganz oben auf Vadheims Liste stehen. Deshalb war es für Veum den Willigen vielleicht angebracht, das Wochenende einzuläuten.
Als ich den Wagen wieder anwarf, fiel mir ein, dass ich vergessen hatte, mein Honorar von Werner zu fordern. Aber ich hatte nicht so viele Stunden gearbeitet, dass es mein Bankkonto aus der Hungersnot befreit hätte. Dieser Tag war schier für gar nichts gut.
Abgesehen von einer Sache vielleicht.
Ich fuhr in die Stadt hinunter und besuchte Paul Finckel, den Journalisten, in seinem Büro. Aber es zeigte sich, auch dafür war nicht der richtige Tag.
Durch einen scheinbaren Zufall, der aber vielleicht einen gewollten Hintergrund hat, liegen die Redaktionen aller drei großen Bergenser Zeitungen im dritten Stock. Vielleicht um zu markieren, dass sich die Journalisten in so großen Höhen bewegen, dass sie das Meiste überblicken, aber nicht so hoch oben, dass sie in ihrem lokalen Umfeld besonders große Macht hätten. Hoch genug, um nicht allzu sehr vom Verkehrslärm gestört zu werden, aber nicht so hoch, dass sie bei der Verkehrsplanung der Stadt hätten mitreden können.
Paul Finckel hing über einer stummen Schreibmaschine. Ein zur Hälfte beschriebenes Blatt klebte an der Walze, aber Paul Finckels Blick richtete sich auf etwas, das weit hinter den schmutzig blassen Wänden lag. Als ich hereinkam, blickte er auf, und es sah aus, als sei er froh über die Unterbrechung.
Das Büro war klein und eng. Das Einzige, was an den Wänden hing, waren alte Zeitungsausschnitte, die er mit Tesafilm befestigt hatte. Sie waren vergilbt, und es war deutlich, seit Finckel etwas gefunden hatte, das es wert gewesen wäre, aufgehoben zu werden, war einige Zeit vergangen.
Auf dem Schreibtisch lagen Haufen alter Zeitungen, ein paar abgegriffene Bücher und ein Telefonbuch. Das Telefon war ebenso stumm wie das Exemplar in meinem Büro. Von dem Stuhl, auf dem Finckel saß, abgesehen gab es nur einen weiteren, und auf dem lagen zwei Tonnen alter Zeitungen.
Paul Finckel selbst war dabei, sich zu verändern. Er war jetzt seit ein paar Jahren geschieden. Vor der Scheidung war er recht korpulent gewesen. Nachdem er wieder auf dem freien Markt war, hatte er sich in einem Fitnessstudio angemeldet und angefangen, regelmäßig zu trainieren. Den Bauch und die Schwimmringe hatte er weg bekommen, er hatte sich einen recht kleidsamen Schnauzbart zugelegt, kleidete sich moderner und war – jedenfalls in seinen Augen – ein richtiger Salonlöwe geworden.
Jetzt wurde der Löwe langsam von Motten zerfressen, der Bauch und die Schwimmringe meldeten sich zurück und entweder war er dabei, sich einen kleidsamen
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