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Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Titel: Dornröschen schlief wohl hundert Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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Appartement da oben, zur Strømgate hin. Wir gingen abwechselnd. Wir waren drei Mädchen, und als wir erst angefangen hatten, war es eigentlich nicht so schwer, Kunden zu finden. Nicht, wenn man so billig ist, und nicht, so lange wir nicht anspruchsvoll waren.« Sie zog verzweifelt an ihrer Zigarette, mit einem Zug um den Mund, als habe sie einen ekligen, bitteren und schalen Geschmack im Mund. »Alte Knacker um die siebzig, denen du fast noch aus der Hose helfen musstest, und kleine Jungs, die kaum wussten, was sie tun sollten.« Ein verklärtes, erstarrtes Lächeln streifte ihren Mund, und es war ein blasser Zynismus in ihrer Stimme, eine angestrengte Abgehärtetheit, die mir sagten, dass sie nicht log. So war es gewesen – so war es für viele. »Die ganze Zeit dachte ich an Peter. Ich machte die Augen zu und ließ sie mich anfassen, befummeln und mit mir machen, was zum Teufel sie wollten … Peter, Peter, dachte ich, Peter, Peter.«
    Ich sah sie vor mir, und ich erinnerte mich, wie ich sie in Kopenhagen gefunden hatte. Ich dachte daran, was für Welten zwischen der rohen, kommerziellen Sexualität und der ekstatischen, wunderbaren Sinnlichkeit in der Begegnung zweier liebender Menschen liegen. Und ich dachte an Beate, vor langer, langer Zeit. Und ich dachte an andere Frauen, die mir begegnet waren, in die ich verliebt gewesen war, mit denen ich geschlafen hatte. Ich dachte an Verliebtheit, die man fühlt, bevor man mit jemandem geschlafen hat, bevor man sie überhaupt berührt hat. Die süße, helle Verliebtheit, die wie ein Meer von Blumen in einem wächst, und die nichts auf der Welt aufhalten kann. Und ich dachte an Solveig Manger. Gnadenlos.
    Lisa steckte sich eine neue Zigarette an. Der Rauch hing blau unter der Decke, trieb ins Kreisen um uns herum. »Willst du noch mehr Details hören?« Kurze Pause, während sie tief Luft holte. »Ich könnte dir erzählen …«
    Ich sagte leise: »Du hast gesagt, du hättest ihn geliebt …«
    Der zynische Gesichtsausdruck verschwand, war wie weggefegt, und dann gab es nur noch das nackte, junge Mädchengesicht. »Ja«, sagte sie mit dünnem, fast schmerzlichem Ton.
    Ich wartete.
    Sie begann zaghaft. »Das war im Frühling. Ich war – dreizehn. Ingelin und ich waren Freundinnen. Ingelin – das ist seine Schwester.«
    Ich nickte.
    »Sie und ich, wir hingen ständig zusammen. Und er, er war nur ihr Bruder. Er, er war ja schon so erwachsen, im Vergleich zu uns. Aber dann … Ab und zu hat er mit uns Quatsch gemacht. Ingelin und ich – du weißt, wie Mädchen so sind –, wir haben gekichert und miteinander getuschelt – über Jungs und über – ja, du weißt schon. Und er war ja fast immer da, wenn ich bei ihr war. Er saß da und las Bücher – und machte Hausaufgaben. Er sollte eine Prüfung machen, im Sommer. Und ab und zu, weiß ich noch, sah er mich irgendwie komisch an, so als würde er überhaupt erst merken, dass ich da war. Als hätte er keine Ahnung gehabt, dass es mich gab, vorher. Und dann habe ich mich in ihn verliebt, so schrecklich, schrecklich verliebt, wie man es in dem Alter eben tut.«
    Sie hielt inne und dachte zurück. Es war beinahe schmerzlich anrührend. Sie war eine reife Frau von sechzehn und erzählte mir von der Zeit, als sie dreizehn war und so schrecklich, schrecklich verliebt, wie man es in dem Alter eben ist.
    Dann fuhr sie fort: »Er hat es mir sicher angesehen. Alle müssen es gesehen haben. Wenn ich bei ihnen zu Hause war, dann sah ich nur ihn. Ich saß da und lauschte auf seine Schritte, wenn er nicht im selben Zimmer war, wenn er oben war oder so. Und wenn er im selben Zimmer saß und las, dann konnte ich den Blick nicht von ihm lassen. Und plötzlich sah er dann auf – und lächelte. Oh, ich war so verliebt. Ich schrieb darüber in mein Tagebuch – so ein dummes Tagebuch, weißt du, mit rotem Plastikeinband und einem Schloss, das man mit einer Büroklammer aufmachen konnte, wenn man wollte. Und ich zeichnete Herzen auf die Umschläge meiner Schreibordner in der Schule – und schrieb seinen Namen hinein. Ich war total bescheuert!« Ihr Gesicht zeigte eine leichte Röte, der Ausdruck ihrer Augen wurde warm, und um ihren Mund lag eine echte Verzückung. Stumm ließ ich sie weitererzählen.
    »Und dann eines Abends im April – es war sehr mild … So als wäre schon Sommer. Ingelin war nicht zu Hause – aber das wusste ich nicht. Ich kroch durch die Hecke zwischen unseren Gärten, wie immer. Hinter ihrem Haus ist ein kleines –

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