Dornröschen schlief wohl hundert Jahr
schwierigste Frage. Ich sah sie an: Wie stark war sie? Wie viel würde sie aushalten, in ihrem jetzigen Zustand? Wie viel hatte sie schon ausgehalten? Ihr Gesicht verriet nichts. Sie konnte hart wie Stein sein, aber sie konnte auch vor meinen Augen zusammenbrechen. Es gab nur einen Weg, das herauszufinden.
»Wieviel hast du eigentlich gewusst über – deinen Vater und Peters Mutter, Lisa?«
Sie starrte mich verständnislos an. »Wie viel – was? Dass – dass sie mal verlobt waren?«
»Ja?«
»Ich kann mich noch an einmal erinnern, da war ich zu Hause bei Ingelin, das war bevor Peter und ich … da machte Peter Witze über Papa und seine Mutter, dass sie – ein Liebespaar gewesen wären. Ich fand das widerlich, ich wurde traurig und sauer und lief nach Hause. Ich lag in meinem Zimmer und heulte, und die anderen kamen und fragten, was los sei – aber ich konnte es nicht sagen – das konnte ich doch nicht!«
»Ja?«
»Ja? Ja? Ja?« Wieder ging ihr Temperament mit ihr durch. »Du hörst dich an wie einer von diesen beschissenen Psychologen! Ja? Ja? Ja? Mehr war da nicht. Das war alles.«
»Mehr war da nicht?«
»Nein – was sollte sonst gewesen sein?«
Ich betrachtete sie abschätzend, versuchte, in ihrem Blick zu lesen. Aber – nein. Vielleicht wusste sie wirklich nicht mehr, vielleicht war sie wirklich ganz unschuldig und ahnte nicht, wie nah Peter und sie wahrscheinlich verwandt gewesen waren.
»Wann fing es eigentlich an, dass er plötzlich mehr Geld in den Fingern hatte?«
»Peter? Das war in dem Herbst – im Sommer – oder vielleicht auch schon im Frühling letztes Jahr. Das war der Grund dafür, dass wir beide so total ausgeklinkt sind, letzten Herbst. Wir konnten uns wieder richtigen Stoff leisten. Ich brauchte nicht einmal – ich brauchte das nicht für Geld zu tun, jedenfalls nicht, solange wir zusammen waren.«
»War es denn aus zwischen euch?«
Wieder war ihr Gesicht völlig leer. »Aus und aus. Er hatte kein Interesse mehr.«
»Kein Interesse? Wie meinst du das?«
»Er hatte kein Interesse! Verstehst du kein Norwegisch? Er wollte nicht – er wollte nicht – mehr mit mir … Er war auch nicht verliebt in mich. Ab und zu – ab und zu –, glaube ich, wurde ihm schlecht, wenn er mich sah.«
»Woher hatte er das Geld?«
»Das Geld? Keine Ahnung. Er hatte den Job – immer noch.«
»Ich habe gehört, er hätte oft blau gemacht.«
»Tja, dann hatte er es wohl woanders her. Er hat nicht mehr viel mit mir geredet, er hat gar nichts erzählt …«
»Es ist ja bekannt, dass starker Drogenkonsum den Geschlechtstrieb tötet, also ist es kein Wunder, dass …«
»Ach, was der Herr Experte nicht sagen!«, unterbrach sie mich höhnisch.
»Aber – du weißt nicht, ob er – andere hatte?«
»Natürlich. Ich weiß es. Frauen und Männer. Das war es wohl, woher er das ganze Geld hatte. Verstehst du nicht? Er wurde eine Hure, genau das, wozu er mich gemacht hatte. Aber das Schlimmste – ich glaube sogar, dass er es gern tat!«
»Frauen und Männer?«
»Ja, stell dir vor! Bist du jetzt schockiert? Klar, war ich auch, zuerst, glaube ich, wenn ich an was anderes denken konnte als – Stoff. Aber das ging schnell vorbei. Eine Spritze und dann – Vergessen. Er hat gesagt – es seien nur Geschäfte. Genau wie …«
Ich betrachtete wieder das Bild, das er von ihr gemalt hatte. »Hat er nie Namen erwähnt – von diesen – Kontakten?«
»Namen? Sie hatten keine Namen. Es waren alte Tussis und fette Schwule, und ihre Namen waren das, was sie in der Brieftasche hatten.«
Das klang ziemlich abgebrüht – für ein sechzehnjähriges Mädchen. Aber die Welt ist hart, und sie hatte schon ein paar der härtesten Orte in unserer Gegend besucht.
»Aber – habt ihr euch getrennt?«
»Meine Güte, was du für Fragen stellst!« Ich hatte aufgehört, ihre Zigaretten zu zählen. Sie hatte eine neue im Mund. »Wir haben uns nicht getrennt, erst … erst …«
Jetzt geschah etwas mit ihrem Gesicht. Plötzlich bekam es Farbe. Gleichzeitig zog es sich heftig zusammen. Es war, als würde es zu einem kompakten Lederknoten, einer angespannten Masse aus Muskeln und Nerven, in der die Augen glänzten wie offene Wunden, der Mund ein verkniffener After war und die Zigarette sinnlos in die Luft ragte, wie ein vergessenes Thermometer.
»Was ist passiert, Lisa?«, fragte ich.
»Frag nicht,« knisterte es aus ihrem Gesicht, mit einer neuen Stimme, einer fremden, angespannten, gepressten Stimme.
Dann stand sie
Weitere Kostenlose Bücher