Dornröschen schlief wohl hundert Jahr
eine kleine Sitzecke, wo sie im Sommer immer Kaffee trinken. Als ich dorthin kam, lagen nur ein paar Bücher auf dem Tisch, und die Tür zum Haus stand offen. Ich ging zur Tür und rief hinein. Aber niemand antwortete. Dann ging ich ins Wohnzimmer. Da war auch niemand. Hallo?, rief ich wieder. Und plötzlich ging die Tür auf – zum Flur und zur Küche – und da stand er, mit einer Scheibe Brot in der Hand. Er hatte gerade reingebissen, und hatte den Mund noch voll und wischte sich die Marmelade mit dem Handrücken aus dem Mundwinkel, und sein Haar stand ihm zu Berge, und ich – ich war total verwirrt. Das war das erste Mal, dass ich mit ihm ganz allein war, und ich wurde rot, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte. ›Ist – ist Ingelin nicht da?‹, fragte ich. Und da grinste er und sagte: ›Nein – ich bin ganz allein.‹ ›Ach so‹, sagte ich und wollte gehen, aber … ›Willst du auch eine Scheibe?‹, fragte er, und … ›Ja‹, antwortete ich, bevor ich nachdenken konnte. Und dann grinste er wieder und sagte: ›Dann komm mit in die Küche …‹ Weißt du, Veum, genau der Moment, als er das so sagte: ›Dann komm mit in die Küche‹ – ich glaube, das war der glücklichste Augenblick meines Lebens …«
Sie sah mich jetzt direkt an, und ich wünschte mir, dass sie dieses Bild von Peter Werner in ihrem Inneren bewahren würde, dass sie ihn so vor sich sehen könnte, immer – und dass sie all das andere, dass er sie einmal zur Hure gemacht hatte und dass er eines gewaltsamen Todes gestorben war, dass sie das vergessen könnte.
»Ich kann mich noch so gut daran erinnern – als wäre es gestern gewesen. Wir haben rumgeblödelt und geredet, und plötzlich habe ich gemerkt, dass wir miteinander reden konnten. Wir haben Brote geschmiert, mit Marmelade drauf und haben Milch rausgeholt – und danach sind wir rausgegangen, in den Garten, wo seine Bücher lagen, und wir saßen auf der Bank da draußen, zusammen. Und plötzlich ist er so ernst geworden. Und dann hat er mein Gesicht in seine Hände genommen und mit dem Daumen über mein Kinn gestrichen, und dann sagte er: ›Du bist so jung, Lisa … so schrecklich jung‹ ….«
Oh ja, man ist ja so alt, wenn man achtzehn ist und zum ersten Mal richtig liebt und alles weiß, was es zu wissen gibt und zwischen einem selbst und einer Dreizehnjährigen hundert Jahre liegen … Ich sah ihn vor mir: der achtzehnjährige, weltgewandte, lebenserfahrene und müde Verführer, mit dem nackten jungen Mädchengesicht zwischen seinen Händen – diesem Gesicht, das zu küssen er sich fast weigerte.
»Und dann … dann hat er mich geküsst«, sagte sie atemlos, als würde sie meine Gedanken lesen.
Ich betrachtete ihr Gesicht, heute, drei Jahre später. Mein Blick wanderte zu dem Mädchenporträt an der Wand. Plötzlich wusste ich wieder, wo ich etwas Ähnliches gesehen hatte, von derselben Hand gemalt. An der Wand von Bjørn Hasle.
31
Ich nickte zur Wand. »Sind das deine Bilder, die da hängen?«
»Ja. Ich habe die, die da hingen, abgenommen. Wir dürfen das. Sie glauben sicher, dass wir uns hier dann mehr wie zu Hause fühlen.«
»Vielleicht ist das ja auch so?«
Sie zuckte nur mit den Schultern.
»Das Bild da – das bist du, stimmt’s?«
»Ja.«
»Wer hat es gemalt?«
Sie zögerte ein wenig, bevor sie antwortete. »Peter. Er hat es in dem ersten Sommer gemalt.«
»Als er allein zu Hause war, während seine Familie im Sommerurlaub war?«
»Wenn du schon alles weißt, warum fragst du dann noch?«
»Ich weiß nicht alles. Niemand weiß alles. Du musst nicht glauben, dass alle Erwachsenen meinen, sie wüssten alles.«
»Ihr benehmt euch jedenfalls so. Uns gegenüber. Ihr wisst alles so viel besser als wir, nur weil ihr ein paar Jahre länger auf der Welt seid. Aber es sind doch nicht die Jahre, die man gelebt hat, die bestimmen, was man fühlt – oder?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Aber … manche von uns finden es vielleicht traurig mit anzusehen, wie ihr jungen – ich meine, junge Menschen die gleichen Fehler machen zu sehen, die wir gemacht haben, als wir – in eurem Alter waren. Das ist der einzige Vorteil, älter zu werden, Lisa. Man bekommt ein bisschen mehr Überblick. Man erkennt, welche Fehler man gemacht hat, und man will anderen dabei helfen, sie nicht zu wiederholen. Besonders den eigenen Kindern.«
»Pah!«, sagte sie, wie um jede weitere Diskussion im Keim zu ersticken.
Sie drehte den Kopf, um das Bild von sich
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