Dornröschen schlief wohl hundert Jahr
anzuschauen. Als sie mir wieder das Gesicht zuwandte, war es weicher geworden. »Ich weiß noch genau, wie er es gemalt hat. Es war im Garten – da hinten in der Sitzecke, von der ich erzählt habe. Ich saß auf einem Stuhl und sollte den Rücken gerade halten, und ich weiß noch, dass das auf die Dauer ganz schön wehtat. Er saß mir am Tisch gegenüber und malte und malte. Und dann redete er. Über sich selbst, über Bücher, die er gelesen hatte, über Filme, die er gesehen hatte, über Orte, zu denen er reisen wollte, über Dinge, die er tun wollte. Und es wurde so heiß in der Sonne, und er holte mir ein Glas Saft. Gelben Saft. Und er sagte, dass er mich liebe, dass er mich unsterblich machen wolle, dass er – oh Mann! Er hätte ins Gefängnis kommen können, wegen dem, was er – was wir in dem Sommer gemacht haben …«
Es war etwas Warmes und Schwarzes in ihrem Blick, eine plötzliche Sinnlichkeit, die ich bei ihr noch nie gesehen hatte. Ich sagte: »Mit anderen Worten – ihr …«
»Ja – wir …« Sie schützte die Worte, hielt sie lange fest, bevor sie sie herausließ. »Er war so lieb zu mir, in dem Sommer. Und es machte nichts, dass ich erst dreizehn war, das spielte einfach keine Rolle. Wir liebten uns ja! Das waren die einzigen Male, wo ich es als wirklich schön erlebt habe, in dem Sommer, mit Peter. Später – später war es nur …«
Ihre Stimme verebbte wieder, ihr Gesicht verdunkelte sich.
»Habt ihr in der Zeit schon Drogen genommen?«
Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nur Hasch ein paar Mal. Es war seine Idee, er kannte welche, die es probiert hatten. Er meinte, wir würden Visionen bekommen, wie er es nannte, aber mir wurde nur schlecht. Ich weiß noch, wie ich splitternackt auf ihrer Toilette lag und gekotzt habe. Ich hatte vorher noch nie geraucht.«
Ihr Gesicht war jetzt eigenartig lebendig. Ich sah den Kampf darin. Sie versuchte, noch eine Weile die guten Erinnerungen festzuhalten, aus dem ersten Sommer, noch eine Weile Abstand zu den schlechten Erinnerungen zu halten, die danach kamen, aus den drei Jahren, die immerhin seitdem vergangen waren. Die Erinnerungen zerrten und kämpften in ihr, und es war an ihrer Gesichtshaut erkennbar.
»Aber später, Lisa – was ist dann mit euch passiert?«
Sie sah mich mit leeren Augen an. »Das hab ich dir doch erzählt. Was damals war, an dem Tag im Nygårdspark.«
»Ja, aber davor – es muss doch etwas passiert sein, das euch dahin gebracht hat, im Laufe eines Herbstes und eines Winters …«
»Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Es passte einfach nicht. Seine Eltern – seine Mutter – wollten mich da drüben nicht mehr sehen, wir gingen in die Stadt. Er fing an der Uni an, und ich – schwänzte die Schule. Wir zogen durch die Parks, trafen andere, die in der gleichen Situation waren. Wir teilten uns ein Bier, Hasch, wenn wir es uns leisten konnten, und später probierten wir – später kam – all das andere.«
»Spritzen?«
Sie nickte. »Das auch. Und Pillen.«
»Aber warum, Lisa, warum? Ihr wart doch jung, ihr hattet euch lieb …«
»Warum, warum, warum? Ihr fragt immer warum! Ich habe keine Ahnung, verdammte Scheiße! In der bescheuerten Kurklinik, in die sie mich geschickt haben, war es genau dasselbe, damals im Frühling. Warum, warum, warum? Ihr müsstet doch wissen, warum, wo ihr doch sonst auch alles …«
»Ich habe doch gesagt, dass ich nicht alles weiß.«
»Ja, ich weiß es jedenfalls nicht!«
Sie unterbrach sich selbst, sog intensiv an ihrer Zigarette, während ihr Blick durch den Raum flackerte, wie durch eine Gefängniszelle. »Es ist einfach passiert,« sagte sie schließlich, so leise, dass ich es fast nicht hören konnte.
Ich sagte: »Aber als du zurückkamst, nach der Kur, da ging es doch eine Weile gut, oder?«
»Gut? Gut? Die anderen finden das vielleicht. Ich ging wieder in die Schule, und Peter hatte einen Job bekommen. Aber es war das reine Theater. So oft wir konnten, versteckten wir uns. Wir gingen in die Parks oder auf den Fløien, hatten Bier dabei oder andere Sachen, aber – nicht so viel, dass wir wieder total abdrehten. Nicht gleich. Er schaffte es, den Job zu behalten. Ich schwänzte nur noch ein paar Tage im Monat. Aber ich sah ja ihre Blicke, und ich wusste, dass sie mir nie wieder vertrauen würden, dass sie nie mehr sicher sein würden. Ich habe sie gehasst für das, was sie uns angetan haben.«
»Wen?«
»Meine Eltern. Und seine.«
Ich zögerte, die nächste Frage zu stellen, die
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