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Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Dornröschen schlief wohl hundert Jahr

Titel: Dornröschen schlief wohl hundert Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gunnar Staalesen
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Schwester Kari stand auf einem Plastikschild über ihrer einen Brusttasche. Ich fragte nach Lisa.
    Sie lächelte liebenswürdig. »Sind Sie mit ihr verwandt?«
    »Nein, ich – mein Name ist Veum. Ich habe sie aus Kopenhagen zurückgeholt. Ich weiß nicht, ob sie mit mir sprechen will, aber ich wollte mich erkundigen, wie es ihr geht.«
    »Ich glaube, Lisa geht es gut«, sagte Schwester Kari. »Ich werde sie fragen. Ihre Mutter ist vor ungefähr einer Stunde zum Essen nach Hause gefahren, und sie ist allein.«
    »Ich danke Ihnen«, sagte ich, so bescheiden ich konnte.
    Ich wartete. Weit hinten im Korridor ging ein Mann im Bademantel langsam hin und her. Ab und zu sah er zu mir herüber, eher neugierig als skeptisch. Er hatte ein langes, schlaffes Gesicht, und seine Augen wirkten unnatürlich groß und sensibel. Er hatte fast keine Haare mehr auf dem Kopf.
    Dann tauchte Schwester Kari wieder auf. Sie lächelte den ganzen Weg von Lisas Zimmer bis zu mir. »Doch«, sagte sie, »sie würde Sie gern sehen, hat sie gesagt.«
    Sie begleitete mich zu Lisas Zimmertür, und ich dachte: gern?
    So gute Freunde waren wir ja nicht gerade gewesen, als wir uns zuletzt gesehen hatten. Aber da war sie auch nicht ganz sie selbst gewesen. Aber vielleicht hatte sie einfach nur Lust, sich zu unterhalten.
    Nichts wäre mir lieber als das.

30
    Lisa stand auf, als ich hereinkam. Sie stand neben einem Sprossenstuhl, eine Hand ruhte auf der Lehne, und versuchte gleichgültig auszusehen.
    Sie war verändert. Ihr Haar war frisch gewaschen und leichter, aber trotzdem nicht ganz frei von dem fettigen, matten Ton, der typisch ist in einer Abstinenzphase. Ihr Gesicht sah frisch gewaschen aus und die Nase glänzte. Sie trug ein schlabberiges, rotweiß gestreiftes T-Shirt und blaue Jeans. An den Füßen hatte sie hellbraune Mokassins. Sie wirkte mädchenhafter, eher wie ein gewöhnliches Schulmädchen.
    Trotzdem war sie noch dieselbe. In ihren unruhigen Augen flackerten Angst, Wut und Hoffnung, als würde sie befürchten, zwar nicht ernsthaft, aber dennoch hoffen – alles auf einmal –, dass ich ihr etwas mitgebracht hatte. Das einzige woran sie wahrscheinlich in diesen Tagen dachte, war Stoff.
    Ihr Gesichtsausdruck war nervös. Ein zaghaftes Lächeln zuckte um ihren Mund, ihre Augenbrauen wirkten feindlich, und hinter ihren Augen lauerten Tränen. Ich sah ihr Herz bis in ihre Schlüsselbeingrube klopfen, und sie stand einfach da, ohne etwas zu sagen. Sie wusste nicht, was sie von mir zu erwarten hatte, erinnerte sich vielleicht kaum noch an mich.
    Ich sagte: »Hallo, Lisa.«
    Der Raum war klein und unpersönlich. Ein Bett, ein Schreibtisch mit einem Bücherregal darüber, zwei Sprossenstühle. Vor dem Fenster erhob sich der Ulriken steil in den Himmel. Immer noch wurde an der Seilbahn gearbeitet, die 1974 abgestürzt war. Es war eine langwierige Arbeit gewesen – ebenso, sie wieder in die Luft zu bekommen. Bei der Seilbahn hatte es fünf Jahre gedauert. Vielleicht würde es bei Lisa ebenso lange dauern.
    Sie sagte: »Hal … lo.« Ihre Stimme brach in der Mitte durch, und sie wusste nicht, wohin sie sehen sollte.
    Ich sagte: »Ich wollte nur hören, wie es dir geht, ein bisschen reden – vielleicht.« Ich machte eine linkische Handbewegung.
    »Und worüber? Über Peter?« Ihre Stimme schlug aggressiv zu.
    Ich nahm mir viel Zeit mit der Antwort. »Über dich, Lisa. Und über Peter, wenn es dabei um dich geht. Über dich und Peter, wenn du verstehst, was ich meine.«
    »Und wozu soll das gut sein?«, fragte sie – nicht mich, sondern die weiße Decke und die Ewigkeit. Sie war nicht der erste Mensch auf der Welt, der – sich und anderen – diese Frage gestellt hatte.
    Ich sagte: »Kann ich mich setzen? Wollen wir uns setzen?«
    Sie sah mich an. Dann zuckte sie mit den Schultern und setzte sich. Sie zog eine zerknüllte Zigarettenpackung aus der Tasche und zog eine flache Zigarette heraus. »Hast du Feuer?«, fragte sie.
    Ich suchte in den Hosentaschen nach meinen Kundenstreichhölzern und gab ihr Feuer. Sie sog den Rauch ein, ihre Wangen wurden hohl, ihr Blick verschleierte sich.
    An der Wand hinter ihr hingen zwei Bilder. Das eine war ein Plakatdruck, der mit Heftzwecken befestigt war. Da saß vor dem Hintergrund eines viel zu großen Vollmondes eine Gruppe junger Menschen um ein rotgelbes Feuer, irgendwo, wo die Abende hell und warm waren, denn der Himmel über ihnen war blass und bläulich, und sie trugen leichte, weite, weiße Hemden und

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