Dornroeschenmord
setz dich hin, bei einer so schlimmen Magen-Darm-Grippe brauchst du dringend einen Kamillentee.« Dorothee sah ihre Freundin besorgt an und führte sie ins Wohnzimmer.
»Hier«, sie drückte Mandy in den bequemsten Sessel und breitete eine weiche, kuschelige Decke über ihre Knie aus. »Jetzt beruhige dich erst mal.« Mandy lehnte sich erschöpft zurück und versuchte sich zu entspannen.
»Ich bin gleich wieder hier«, sagte Dorothee und verschwand in die Küche.
Mandy schloß die Augen. Die Gedanken rasten durch ihren Kopf, ständig blitzten die Bilder der beiden toten Frauen in ihr auf. Und dazwischen Edward. Panik legte sich wie ein eiserner Ring um ihren Brustkorb, erneut spürte sie die Übelkeit in sich hochsteigen.
Dorothee kam mit einem Tablett aus der Küche zurück, auf dem eine dampfende Tasse Tee stand. »So, das wird dir erst mal helfen, du mußt ihn in kleinen Schlucken trinken, damit sich dein Magen wieder beruhigen kann. Seit wann hast du diesen Infekt denn schon?«
»Ich bin nicht krank, Dorothee«, sagte Mandy schwach. »Es ist wegen Edward …«
»Oh Gott, nein, du bist schwanger!«
»Nein, nein, ich bin nicht schwanger. Es ist viel schlimmer.«
Eine Weile später saß auch Dorothee mit bleichem Gesicht in ihrem Sessel, die Härchen auf ihren Armen standen kerzengerade in die Höhe.
»Du liebe Güte«, flüsterte sie entsetzt, »das ist ja eine grauenvolle Geschichte. Aber warum sollte Edward das getan haben? Also ehrlich, ich kann mir nicht vorstellen, daß seine Bindungsängste sich plötzlich in Mordgelüste verwandelt haben sollten.«
»Aber die Fotos, Dorothee. Er hat beide Frauen gekannt!«
»Und was sollen wir jetzt tun? Zur Polizei gehen?« Dorothee sah Mandy zweifelnd an.
»Ich weiß nicht. Ich bin vollkommen verwirrt. Im Grunde kann ich mir bei Edward so was gar nicht vorstellen. Die einzige Waffe, die Edward je gegen mich benutzt hat, waren seine sporadischen Migräneanfälle.«
Grübelnd saß Mandy in ihrem Sessel. Die angezogenen Knie hielt sie mit ihren Armen so fest umschlungen, als wollte sie sich gegen die unheilvolle Wahrheit schützen. Sie wirkte verlassen und schutzlos wie ein Kind.
»Wir müssen vor allem Ruhe bewahren«, sagte Dorothee schließlich. »Es bringt nichts, jetzt irgend etwas zu überstürzen. Und du brauchst Abstand. Aus der Distanz sehen die Dinge oft viel klarer aus.« Dorothee sprach mit leiser, monotoner Stimme und streichelte dabei Mandys Rücken. »Wir fahren übers Wochenende weg, und ich weiß auch, wohin. Ich kenne ein sehr hübsches Hotel am Chiemsee. Wir können Spazierengehen, gut essen, schwimmen und in Ruhe alles besprechen. Was hältst du von der Idee?«
»Du bist wie immer die klügste von allen«, sagte Mandy. Der Kamillentee und Dorothees beruhigende Stimme hatten ihre Wirkung nicht verfehlt.
»Dann fahren wir morgen früh gleich los – und jetzt: ab ins Bett. Du schläfst heute nacht hier.« Manchmal war Dorothee richtig mütterlich.
9
Du liebes Kind,
komm geh’ mit mir,
gar schöne Spiele
spiel’ ich mit dir.
JOHANN WOLFGANG VON GOETHE
Die Sonne bahnte sich ihren Weg durch das dichte Geäst der Bäume. Silbrig glitzerten die Strahlen auf dem hellen Grün der Blätter und tauchten den Wald in ein unwirklich flirrendes Licht. Der schmale Pfad schlängelte sich sanft am Seeufer entlang, der Wind wehte sacht und verwandelte die Zweige in tanzende Schatten. Tief atmete Mandy die frische, klare Luft ein. Der Druck der letzten Tage fiel von ihr ab, und sie fühlte sich leicht und frei.
An einer Biegung tauchte eine schemenhafte Gestalt auf. Reglos stand sie da und schien auf Mandy zu warten. Dann hob sie plötzlich den Arm und winkte ihr zu. Durch das Rauschen der Blätter glaubte Mandy eine merkwürdig lockende Stimme zu hören, die ihren Namen rief: »Malina – Malina – Malinaaa …«
Mit unsicheren Schritten ging sie weiter. Plötzlich erkannte sie den Wartenden. »Hallo Mandy«, sagte Edward, »ich habe dir etwas mitgebracht.« Gebannt blickte sie auf die tiefrote Rose in seiner Hand.
»Ich kenne einen Ort, da gibt es noch mehr davon. Er wird dir gefallen. Komm!« Er griff nach ihr und zog sie mit sich.
Mitten im Wald lag eine kleine Lichtung, auf der die üppigsten roten Rosen wuchsen, die Mandy je gesehen hatte. Ihren prallen Blüten entströmte ein starker, süßer Duft, der ihre Sinne betäubte und sie schwach und nachgiebig werden ließ.
Sie wehrte sich nicht, als Edward sie heftig an sich zog und sie
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