Dornroeschenmord
Becker, sein ehemaliger Kommilitone, hatte nach einigen Wochen tatsächlich herausgefunden, wer der Mann auf der Fotografie war, die Gwendolyn so lange vor ihm verborgen gehalten hatte. Zum wiederholten Male las Edward die Nachricht:
Lieber Edward, entschuldige bitte, daß es so lange gedauert hat, aber ich hatte in der letzten Zeit so viel zu tun, daß ich erst jetzt dazu komme, dir das Ergebnis meiner »Ermittlungen« mitzuteilen.
Die Umstände, unter denen ich die Identität des Mannes auf der Fotografie festgestellt habe, sind mehr als verblüffend. Der Zufall kam mir nämlich zur Hilfe: Es handelt sich um Frank von Arnstein, der in der feinen New Yorker Gesellschaft keine geringe Rolle spielte. Die Betonung liegt auf »spielte« , denn Frank von Arnstein ist im Mai dieses Jahres bei einem Autounfall im Alter von einundsiebzig fahren ums Leben gekommen. Sämtliche Zeitungen haben darüber berichtet, und ausgerechnet im »New Yorker« , den ich regelmäßig lese, war das Jugendfoto, das du mir geschickt hast, abgebildet. Das ist doch nahezu unglaublich, oder?
Geboren wurde Frank von Arnstein am 28. Oktober 1930 in St. Wolfgang/Österreich. Nach dem Anschluß Österreichs an Deutschland 1938 emigrierte er mit seinen Eltern nach New York. Er studierte Jura in Yale, war aber nur einige Jahre als Anwalt tätig. Im Jahr 1963 heiratete er Isabelle Davenport, die jüngste Tochter von William Davenport, Oberhaupt einer der angesehensten New Yorker Familien. Aufgrund dieser Heirat war es ihm möglich, sich ausschließlich seiner Kunstsammlung zu widmen, die unter Kennern als eine der ungewöhnlichsten gilt. Die meisten Gemälde Tamara de Lempickas befinden sich in seinem Besitz, außerdem mehrere Südseebilder von Charles Strickland und Originale von Marc Chagall. Mit vierzig gründete er die Zeitschrift »Mission of Art« , die bis heute vierteljährlich erscheint.
Was seine Heirat mit Isabelle Davenport angeht, so wurde damals gemunkelt, daß es sich dabei – jedenfalls von seiner Seite aus – nicht um eine Liebesheirat gehandelt haben soll. Vielmehr sei es von Arnstein um das Vermögen seiner Angetrauten gegangen. Das erscheint im Hinblick auf seine eigene Herkunft auf den ersten Blick eher unglaubwürdig, aber ein zweiter, gründlicher Blick beweist, daß seine Familie den Großteil ihres Vermögens bei einem Börsen-Crash verloren hat. Geblieben waren eigentlich nur der gute Name und die adlige Herkunft.
Trotz aller Gerüchte hielt die Ehe mit Isabelle Davenport bis 1992 . Mit ihr hatte er zwei Kinder: Lillian und Nicolas von Arnstein. Im Alter von zweiundsechzig Jahren ließ von Arnstein sich überraschend scheiden und heiratete gleich darauf die 33jährige Galeristin Charlotte Stokes. Beim Autounfall saß sie übrigens am Steuer, kam jedoch mit wenigen Verletzungen davon.
Ich hoffe, meine Recherchen bringen dich ein wenig weiter. Was die offenkundige Ähnlichkeit zwischen dir und Frank von Arnstein betrifft – tja, alter Junge … Es heißt übrigens, daß von Arnstein zur Zeit seiner Eheschließung mit Isabelle Davenport in eine junge Europäerin verliebt gewesen sein soll … Ich fand einen Abschnitt darüber im »People-Magazin« , das die Geschichte heute natürlich romantisch verklärt darstellt und leider keine Namen nennt.
Laß von dir hören, die Einladung nach New York steht nach wie vor.
David
P. S. : Anbei die erwähnten Zeitungsausschnitte.
Edward sah aus dem Fenster und versank in Grübeleien. Einzig seine Mutter konnte seinen Verdacht bestätigen. Allerdings würde das bedeuten, daß sie ihn siebenunddreißig Jahre lang über seine Herkunft im unklaren gelassen, ja, ihn angelogen hätte. Edward sehnte sich nach Ruhe. Aber wie sollte er sie finden, wenn die Vergangenheit nicht aufhörte, sich der Gegenwart zu bemächtigen?
20
Wie an dem Tag, der dich der Welt verlieben,
die Sonne stand zum Gruße der Planeten,
bist also bald und fort und fort gediehen,
nach dem Gesetz, wonach du angetreten.
So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen,
so sagten schon Sybillen, so Propheten;
und keine Zeit und keine Macht zerstückelt
geprägte Form die lebend sich entwickelt.
JOHANN WOLFGANG VON GOETHE
Früher hatte sie immer geglaubt, jemand wolle sich nur wichtig machen, wenn er behauptete, vor lauter Arbeit den eigenen Geburtstag vergessen zu haben. Jetzt war es Mandy selbst passiert. Erst als Edward, der übers Wochenende einen wichtigen Geschäftstermin wahrnehmen mußte,
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