Dornroeschenmord
in ein Paar erstarrter Augen.
Bevor sie die Besinnung verlor, dachte sie noch, daß alles sich irgendwann rächte. Denn sie war es gewesen, die ihm den Judaskuß gegeben hatte.
Wie grau alles war. Selbst dem Lichtschein, der schwach durch ihre Lider drang, gelang es nicht, sie aus ihrem Dämmerzustand zu holen. Die Erinnerungsfetzen, die durch ihr Gedächtnis zogen, schienen wie Nebelschwaden – nicht greifbar und sinnlos in ihrer Reihenfolge. Geräusche und Bilder tauchten auf, verschwanden im Nichts. Vergangenheit und Gegenwart verschmolzen zu einem absurden Tanz.
Für den Bruchteil von Sekunden sah Mandy sich wieder umringt von den Partygästen, die ihr mit grotesk verzerrten Gesichtern zuprosteten. Die Szene glitt über zu Frederick, der ihr gesichtslos und mit ausgestrecktem Arm die Tür wies, und gleichzeitig war da Edward, der sie in einer Fülle roter Rosen badete. Sie spürte deutlich die Stacheln, die in ihren Körper drangen, die Hecke aus Dornen, die ein Entkommen unmöglich machte, und Edwards schwerer Körper, der sie erstickte.
Dann zerriß das Bild, und sie sah sich in einem türkisfarbenen Meer schwimmen, und die Freiheit und Weite, die es versprach, schienen unendlich. Die blaue Luft war klar und salzig, und sie atmete tief ein. Doch die Frische, nach der ihre Lungen gierten, wich schnell einem lähmenden Gestank nach Verwesung.
Mama, Mama, geh nicht weg. Sie hörte sich mit kindlicher Stimme rufen, aber die Krankenschwester mit den kurzen grauen Haaren riß sie ihrer Mutter aus dem Arm und trug sie zurück in eines der vielen Zimmer. Resolut steckte sie das kleine, weinende Mädchen ins Bett und schloß ohne ein tröstendes Wort die Tür hinter sich. Dann war alles dunkel und die Angst übermächtig. Ein schwarzer Sog ergriff ihren Körper, und der Abgrund, in den sie fiel, war bodenlos.
Das Erwachen war schmerzhaft. Ein langsames mühevolles Auftauchen, ihr Schädel dröhnte, und die bleierne Schwere machte es ihr fast unmöglich, die Augen zu öffnen. Sie versuchte ihren trockenen Lippen mit der Zunge ein wenig Feuchtigkeit zu geben. Dabei drang ein Krächzen aus ihrer Kehle. Sie spürte weder ihre Beine noch ihre Arme, was beängstigend war, aber erleichtert stellte sie fest, daß ihre übrigen Sinne offenbar noch funktionierten.
Die beklemmenden Bilder waren verschwunden, während der beißende Geruch noch immer schwer in der Luft lag. Langsam begriff sie, woher er stammte: Äther. Er hatte sie mit Äther betäubt, bevor er sie hierhergebracht hatte. Diese Erkenntnis verursachte ihr Übelkeit, doch sie bezwang den Impuls, sich zu übergeben, und versuchte statt dessen krampfhaft, an ihre Vernunft zu appellieren.
Allmählich hatten sich ihre Augen an das Dämmerlicht gewöhnt, und sie erkannte den großen Spiegel und den dunkelblauen Samtvorhang. Während sie sich an den Abend erinnerte, an dem sie zum ersten Mal in Grassers Haus gewesen war und sein Geheimnis entdeckt hatte, hob sie mit äußerster Mühe den Kopf und bemerkte, daß sie auf einem alten Krankenhausbett lag und ihre Hände und Füße an die Bettpfosten gefesselt waren. Die dicken Kordeln schnitten tief in ihre Haut ein, die höllisch brannte.
Verzweifelt über ihr eigenes Verschulden und ihre Naivität ließ sie den Kopf zur Seite sinken und spürte, wie ihr die Tränen über die Wange liefen. Schönheit und Intelligenz halten den Tod nicht fern. Plötzlich hallten Ruttlichs Worte durch ihren Kopf, und mit einem Mal war ihr klar, wie hoffnungslos ihre Lage war und daß niemand sie hier finden würde.
Die Zeit verstrich quälend langsam. Plötzlich vernahm sie seine Schritte, die schwer über die Treppe schlurften. Da wußte sie, daß sie ihn fürchtete wie nichts in ihrem Leben zuvor.
Die Tür ging auf, und er kam näher. Die Freundlichkeit, die er bei ihrer ersten Begegnung ausgestrahlt hatte, war verschwunden. Sein Geruch war ekelerregend, und seine Fettleibigkeit erschien ihr nun bedrohlich. Die Haare hingen strähnig um seinen Kopf, und von seiner Stirn tropfte der Schweiß in ihr Gesicht, während er sich über sie beugte und seine zur Faust geballte Hand öffnete.
»Suchen Sie immer noch danach, Frau Maltzan? Oder haben’S die am End noch gar nicht vermißt?« Sein Tonfall war genauso sympathisch, wie Mandy ihn in Erinnerung hatte. Befremdend war allein das harte Funkeln in seinen Augen, als er ihr die Perlmuttspange zeigte, mit der sie damals den Hund von sich abgelenkt hatte. Mit einem Mal wußte Mandy,
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