Dornroeschenmord
sie morgens angerufen hatte, um ihr zu gratulieren, war es ihr wieder eingefallen.
Trotz seiner liebevollen Worte fühlte sie sich etwas einsam. Natürlich gab es unzählige Menschen, die keinen gesteigerten Wert darauf legten, an solch einem Tag verwöhnt und umsorgt zu werden, aber sie war damit aufgewachsen und kannte es nicht anders.
Als sie noch ein kleines Mädchen war, hatte die ganze Familie an ihrem Geburtstag Spalier gestanden. Auf dem Frühstückstisch hatten die Geschenke gelegen, und auf der Torte – es mußte jedes Jahr Bananen-Cremetorte sein – hatten die Kerzen gebrannt. Für Mandy waren es Erinnerungen, an die sie gerne zurückdachte und die ihr ein Gefühl von Heimat gaben.
Sie kuschelte sich in ihre Kissen und genoß es, noch ein wenig vor sich hinzuträumen. Gegen zehn stand sie schließlich auf und tappte barfüßig und im Schlafanzug ins Wohnzimmer. Es gehörte seit langem zu ihren Maximen, unangenehme Dinge zuerst zu erledigen, um dann den Tag entspannt anzugehen. Also auch heute, dachte sie und beschloß, Heino Ruttlich wegen der noch immer offenen Rechnung anzurufen.
Zu ihrer Überraschung meldete sich statt seiner Cordula Schiller. Für einen Augenblick überlegte Mandy, ob sie nicht einfach auflegen sollte, entschied sich dann aber dagegen.
»Guten Morgen, Frau Schiller. Malina Maltzan hier. Na, immer in der Nähe von Herrn Ruttlich?« Mandy konnte sich die kleine Spitze nicht verkneifen.
»Wieso?« Frau Schiller war verblüffend einsilbig.
»Ich wundere mich nur, daß ich Sie am Apparat habe. Ich möchte unbedingt Herrn Ruttlich sprechen.«
»Sein Telefon ist auf mich umgestellt. Was gibt’s denn?«
»Wenn ich etwas mit Ihnen zu besprechen hätte, Frau Schiller, würde ich nicht Herrn Ruttlichs Nummer wählen. Also, würden Sie mir bitte sagen, wann ich mit ihm sprechen kann?«
»Gar nicht.« Ihre Stimme klang mit einem Mal aufgeregt. »Heino ist spurlos verschwunden, und das schon seit Tagen. Kein Mensch weiß, was mit ihm ist und wo er sein könnte. Er ist einfach nicht mehr zur Arbeit erschienen, und in seiner Wohnung ist er auch nicht. Wir überlegen gerade, ob wir die Polizei einschalten sollen.«
Ihre offenkundige Besorgnis wirkte auf Mandy echt. Bevor sie jedoch etwas erwidern konnte, sprach Frau Schiller schon weiter. »Also, seien Sie mir nicht böse, wenn ich jetzt auflege, ich muß die Leitung freihalten. Sie wollen sicher wissen, was mit Ihrer Rechnung ist. Seien Sie unbesorgt, ich habe die Überweisung schon veranlaßt.« Ohne weitere Erklärung legte sie auf.
Heino Ruttlich spurlos verschwunden? Seltsam. Für einen Moment schien es Mandy, als höre sie wieder seine raunende Stimme. Die merkwürdigen Worte, die er auf der Premierenfeier geäußert hatte, schossen ihr durch den Kopf, doch etwas in ihr sträubte sich dagegen, weiter über ihn nachzudenken.
Während sie noch überlegte, wie sie nun eigentlich ihren Geburtstag feiern sollte, klingelte das Telefon. Gespannt hob sie ab.
Es war Dorothee, die sie zu einem selbstgekochten Geburtstagsessen einlud: Spaghetti mit Steinpilzragout, kühlem Weißwein und hinterher Profiteroles.
»Brauchen wir da Männer?« fragte sie.
»Braucht die Nation Hansi Hinterseer und seine Musi?« Mandy bedankte sich für die nette Überraschung und freute sich auf einen gemütlichen prosecco-erfüllten Abend zu zweit.
Wenn sie allerdings geahnt hätte, was sie wirklich erwartete, hätte sie wohl etwas anderes aus ihrem Kleiderschrank gezogen als ihr verwaschenes bräunlich-beiges Strickensemble, das sie vor gut drei Jahren im Ausverkauf erstanden hatte. Der Anzug war zwar nicht besonders kleidsam, aber wie geschaffen für Lümmelabende auf der Couch. Aus diesem Grund hatte sie ihn auch gekauft. Außerdem bot das gute Stück durch den Gummizug am Bund genügend Platz für die dreifache Menge Profiteroles und die doppelte Portion Schlagsahne, ohne auch nur ansatzweise zu kneifen.
Als Mandy Dorothees Wohnung betrat, hatte sie den Eindruck, daß irgend etwas nicht stimmte. Und tatsächlich: Als sie ins Wohnzimmer kam, wäre sie fast den Tod der Peinlichkeit gestorben. Statt Spaghetti satt und Profiteroles gab es Platten mit den erlesensten Häppchen, dazu Champagner und feinste Petit Fours. Mitten im Raum standen etwa zwanzig elegant gekleidete Männer und Frauen, die ihr wohlwollend lächelnd zuprosteten: »Überraschung!«
Neben Dorothee und Christoph entdeckte sie Freunde und Bekannte, die sie schon lange nicht mehr
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