Dornröschenschlaf
gebeugt und gesagt hat: »Ich bin fertig«, bevor sie die Tür geöffnet hat und eingestiegen ist ⦠und dann diese Stimme â seine Stimme â, die Stimme des Schattens, der hinter dem Lenkrad saÃ. Sie kann sich nicht daran erinnern. Sie hat das Ereignis, infolgedessen sie ein perfektes Gedächtnis hat, nur noch undeutlich im Kopf, ebenso verschwommen wie die ganze Zeit, bevor Clea verschwunden war.
»Hier spricht Detective Morasco. Was kann ich für Sie tun?«
»Ich ⦠ich habe in den Nachrichten etwas von einem blauen Wagen gehört.«
»Wer spricht da?«
»Mein Name ist Brenna Spector. Ich bin ehemalige Privatdetektivin.«
»Okay, hören Sie zu. Das hätte niemals an die Presse durchsickern dürfen.«
»Nein, ich bin froh, dass es durchgesickert ist, denn â«
»Es war eine falsche Spur.«
»Eine falsche Spur?«
»Richtig, eine falsche Spur.«
»Dann ⦠wollen Sie also sagen, dass sie nicht in einen blauen Wagen eingestiegen ist?«
»Wir suchen nicht nach einem blauen Wagen. Danke, dass Sie angerufen haben.« Klick.
Ganz schön kalt, denkt Brenna.
»Verzeihung«, sagte Sylvia mit einem Mal. »Haben Sie mit mir gesprochen?«
Brenna blinzelte. »Wie?«
»Egal.«
Mit dröhnendem Motor stieg das Flugzeug etwas höher, und schon bald lagen die Turbulenzen hinter ihnen, die Anschnall-Zeichen gingen aus, und Sylvia nahm die Glitzerbrille ab und verfiel in einen tiefen, posttraumatischen Schlaf. Brenna holte ihren iPod aus der Tasche, stopfte sich die Knöpfe in die Ohren und hörte weiter Lust for Life. Sie lauschte Iggys gähnendem Bariton, wie er irgendeine schräge Sünde erbettelte â es sollte nicht nur einfach irgendeine Sünde, nein, es sollte eine schräge Sünde sein. Brenna liebte diesen Song, seit sie ihn zum ersten Mal gehört hatte â am 21. Februar 1988, während ihres zweiten und letzten Jahres an der Columbia University, als sie im Schneidersitz auf dem ungemachten Bett von Dan Price gesessen hatte â eines schlaksigen, grünäugigen, schmerzlich attraktiven Kerls.
Aber Brenna kehrte nicht in jene Nacht zurück. Und auch nicht in den Morgen des 16. Oktober 1998. Sie erinnerte sich auch nicht an die Woche nach ihrem Gespräch mit Nick Morasco oder an all die Zeit, die sie in Tarry Ridge verbracht hatte, weil dort die kleine Iris Neff verschwunden war. Sie gestattete sich nicht, sich an die Menschen zu erinnern, denen sie damals begegnet war, an die Fragen, die sie gestellt hatte, und an den grässlichen Verdacht, der ihr gekommen war. Und auch die Erinnerung an ihre zugeschnürte Kehle, als sie nach dem Telefonhörer gegriffen und die Nummer angerufen hatte, von der sie sich geschworen hatte, sie riefe sie niemals wieder an, lieà sie nicht zu.
Sie verbot sich die Erinnerung an jene Woche. Doch sie wusste, wenn sie mit Morasco spräche, wenn sie diesem Menschen direkt gegenüberstünde und auch seine Stimme wieder hörte, wenn er ihr die Fragen stellte, die er stellen musste â was für Fragen das auch immer waren â, dächte sie an Tarry Ridge und Iris Neff zurück. Dächte sie zurück an jene Woche â jene Woche, die das Ende ihrer Ehe eingeläutet hatte â, ganz egal, ob sie es wollte oder nicht.
3
Knapp fünf Stunden später war sie wieder in der Stadt, und als sie zurück in ihre Wohnung an der Ecke 12./6. StraÃe kam, rief ihr Trent entgegen: »Wurde auch allmählich Zeit, dass du dich wieder mal hier blicken lässt. Ich muss dir nämlich etwas zeigen â was so Abgefahrenes hast du bestimmt noch nie gesehen.«
»Ich habe keine Ahnung, was das heiÃen soll.«
Obwohl Trent LaSalle seit fast sechs Jahren für Brenna tätig war, rief seine Anwesenheit in ihrer Wohnung immer noch ein leichtes Unbehagen in ihr wach. Dabei hielt er sich genau genommen nur im vorderen Teil ihres Apartments auf â einer ungewöhnlich geräumigen Sozialwohnung, die sie acht Jahre zuvor, kurz nach ihrer Scheidung, aufgetrieben hatte. Die beiden Schlafzimmer â eins für sie selbst und eins für Maya, die an drei Tagen pro Woche bei ihr war â lagen im hinteren Bereich des die gesamte Etage einnehmenden Bereichs und waren für Brennas Assistenten tabu, dessen Schreibtisch in der hintersten Ecke des ansonsten ausnehmend geschmackvollen Wohn- und
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