Dornröschenschlaf
ehemals Reporter und inzwischen Redakteur, mit seinem leicht schütteren Bürstenschnitt, der kräftigen Statur, der tweedfreien Garderobe und dem angeborenen Geschick im Umgang mit Menschen eher wie ein Polizist wirkte als dieser Mann, fand Morasco endlich, was er in der Tasche suchte, und legte es auf ihrem Schreibtisch ab.
Es war ein Buch aus einer Bücherei. Das Buch von Lieberman.
»Das hier sind Sie, stimmtâs?« Morasco schlug das Buch ungefähr in der Mitte auf. »Kapitel fünf?«
Trent kam mit dem Kaffee zurück und las die Kapitelüberschrift laut vor. »Das Mädchen, das niemals etwas vergisst.«
»Ja«, gab Brenna zu. »Das bin ich ⦠oder eher, das war ich als Kind.« Als das Buch AuÃergewöhnliche Kinder 1990 zum ersten Mal erschienen war, hatte sie darin nur B. geheiÃen, doch nachdem im wissenschaftlichen Teil der New York Times vom 14. April 1995 unter Nennung ihres Namens über sie berichtet worden war, hatte der Herausgeber sie angerufen und gefragt, ob es in Ordnung wäre, würde sie auch in den folgenden Auflagen des Buches namentlich genannt.
»Ich wusste gar nicht, dass in einem Buch über dich geschrieben wurde«, erklärte Trent.
»Ist auch lange her.« Brennas Blick fiel auf die aufgeschlagene Seite. Sie hieà in dieser Ausgabe noch B., und plötzlich dachte sie an ihre eigene signierte Ausgabe des Buchs zurück, die sie von Lieberman sofort nach dem Erscheinen zugeschickt bekommen, aber bisher nie gelesen hatte, auch wenn sie seither â da sie sie schlieÃlich vielleicht irgendwann mal würde lesen wollen â auf ihrem Nachttisch lag.
Sie sah das Buch, wie es auf dem grünen Korbtischchen in ihrer ersten New Yorker Wohnung an der Ecke 112./Amsterdam neben der weiÃen Metall-Nachttischlampe lag â¦
»Hallo!«, blaffte plötzlich Trent.
Brenna räusperte sich kurz und wandte sich Morasco zu, der sie so eingehend durch seine Brille mit dem dünnen Drahtgestell hindurch betrachtete, als mache er dadurch das bisherige Fehlen jeden Blickkontaktes zwischen ihnen wieder wett. Seine Augen waren beinah schwarz und entwaffnend sanft. Was wahrscheinlich weniger ein Zeichen angeborener Empfindsamkeit als vielmehr die Folge seiner Kurzsichtigkeit war â denn seine Brillengläser waren ziemlich dick. Doch wahrscheinlich half Morasco dieser Blick durchaus, wenn er mit irgendwelchen Zeugen sprach.
»Sie haben sich an irgendwas erinnert, stimmtâs?«
»Wie?«
»Das Buch â der Anblick hat eine Erinnerung in Ihnen geweckt.«
Brenna nickte. »Das ist eben die Art, wie ⦠diese Störung funktioniert, deshalb â¦Â«
»Ich muss Ihnen etwas zeigen.«
Unglücklicherweise riefen diese Worte die Erinnerung an Trent und seine Nippelringe in ihr wach. Am liebsten hätte sie ihn dafür umgebracht, denn jetzt musste sie heftig blinzeln, damit dieses Bild wieder verschwand.
Da Morasco abermals in seinem Beutel wühlte, merkte er nicht, dass sie abermals in die Vergangenheit entschwunden war. »Sie haben mich am Telefon nach Iris Neff gefragt. Haben Sie sie gekannt?«
»Wie? O ⦠nein, ich â«
»Und wie steht es mit mir?«
»Mit Ihnen?«
»Weshalb wussten Sie schon, wer ich war, bevor ich es Ihnen gesagt habe?«
»Ich hatte vorher schon mal mit Ihnen telefoniert.«
»Einmal.«
»Am 16. Oktober 1998 um neun Uhr dreiundzwanzig.«
Er hielt in seiner Suche inne, hob den Kopf und sah sie an. »Na, das muss aber ein besonderes Gespräch gewesen sein.«
»Ich habe dabei zufällig auf eine Uhr geschaut.«
Wieder wandte er sich seinem Beutel zu. »Und worum ging es bei dem Gespräch?«
»Ich hatte auf der Wache angerufen, um etwas zu fragen, aber Sie haben mich eiskalt abserviert. Weshalb das Gespräch nach dreiÃig Sekunden bereits wieder beendet war.«
»He«, meldete sich Trent. »Sie kann Ihnen auch problemlos sagen, wann die Seinfeld -Folge kam, in der sie alle gewettet haben, wer es am längsten aushält, ohne â«
»Dann ist also das Gespräch mit mir in guter Gesellschaft«, stellte Morasco fest.
Trent nickte zustimmend. »Und sie weià auch ganz genau, wann Shirley McLaine Arschloch zu David Letterman gesagt hat, wann Star Wars â Die dunkle Bedrohung zum ersten Mal im Ziegfeld-Kino kam und ⦠oh, und an welchem Tag im
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