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Dornröschenschlaf

Dornröschenschlaf

Titel: Dornröschenschlaf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison Gaylin
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den Kopf. »Das verstehe ich nicht.«
    Und auch sie selbst verstand es nicht. Statt der belastenden Fotos hatte Carol Wright eine Kopie von Iris’ seltsamem Gemälde zugesandt – von dem Strichmännchen-Mädchen, das in einer Blume gefangen war.
    Als zwanzig Minuten später eine Krankenschwester kam, um die Infusionsnadel aus ihrem Arm zu ziehen, trat Trent den Rückzug an. »Iiihhh. Nadeln. Ich muss los«, erklärte er, der erst ein paar Tage zuvor jemanden dafür bezahlt hatte, dass er ihm während seiner Mittagspause Silberringe durch die Nippel stach. Aber schließlich war er auch ein Mensch, der für seine zahllosen inneren Widersprüche regelrecht berüchtigt war.
    Brenna rief: »Bis Morgen«, als er eilig durch die Tür entschwand, war aber in Gedanken immer noch bei Carols Mail an Roger Wright. Wie können Sie es wagen? , hatte sie an Wright geschrieben – nicht weil er mit Lydia fremdgegangen war, sondern wegen eines Kinderbilds. Was mochte das bedeuten? Sie kopierte den Anhang der Mail, schickte ihn zusammen mit der Nachricht Von Carol Wentz an Roger Wright. Letzter Abend ihres Lebens an Morascos private E-Mail-Adresse und lehnte sich zurück.
    Â»Was machen die Schmerzen?«, fragte die junge Schwester, die für jemanden in einem Kittel, auf dem rosafarbene Wolken neben farbenfrohen Regenbogen abgebildet waren, überraschend resolut aussah. »Auf einer Skala von eins bis zehn.«
    Â»Ich würde sagen zwei bis drei.«
    Â»Dann setzen wir die Schmerzmittel jetzt erst mal ab. Klingeln Sie mich einfach an, wenn’s schlimmer wird.«
    Nachdem die Schwester sie verlassen hatte, sah sich Brenna nacheinander die Kopie und dann das Original der Kinderzeichnung an. Sie wünschte sich, sie hätte nicht ihr Studium an der Uni von Columbia schon nach wenigen Semestern abgebrochen, denn als Psychologin könnte sie vielleicht erkennen, was sich hinter diesem Bild verbarg. Weshalb hatte Iris es gemalt?
    Natürlich kannte sie jemanden, der ihr das wahrscheinlich sagen könnte.
    Brenna hatte schon seit Jahren nicht mehr mit Dr. Lieberman gesprochen, aber seine E-Mail-Adresse war sicher in ihrem Gedächtnis abgespeichert, und ungeachtet der seltsamen Beziehung, die sie beide zueinander hatten, kannte sie keinen besseren Kinderpsychologen als ihn. Eilig schrieb sie ihm eine Mail, beschränkte dabei aber den Small Talk auf ein Minimum, da er selbst die banalsten Sätze, die man von sich gab, einer eingehenden Analyse unterzog. Ich brauche Ihre professionelle Meinung zu dem Bild, das ein verschwundenes, sechsjähriges Kind gezeichnet hat. Könnten Sie es bitte interpretieren und sich so schnell wie möglich bei mir melden?, schrieb sie ihm und hängte die Kopie der Buntstiftzeichnung an.
    Kaum hatte sie die E-Mail abgeschickt, als sie auf ihrem Bildschirm las:
    JRapp68: Hi.
    Jim. Brenna holte so tief Luft, dass die Stichwunde in ihrem Bauch und die Haut in der Höhe ihres linken Auges anfingen zu brennen, und mit einem Mal tat es ihr leid, dass sie auf Schmerzmittel verzichtet hatte, obwohl sie in ihrem tiefen Inneren wusste, dass ihr selbst die größte Dosis auch nicht half, weil der Schmerz, den sie empfand, nicht real, sondern erinnert war. Ihr Kiefer pochte, und sie hatte das Gefühl, als würde ihr Gesicht im nächsten Augenblick zerspringen, doch einen Verband spürte sie nicht. Denn die Schmerzen hatte ihr elf Jahre zuvor ein untreuer Ehemann, dessen Namen sie nie erfahren hatte, zugefügt, und am nächsten Abend, dem Abend des 23. Oktober 1998, hatte ihr eigener Ehemann sie bitterböse angesehen und erklärt: »Ich glaube nicht, dass ich dir das jemals verzeihen kann.« Mit diesem einen Satz hatte er ihr das Herz gebrochen, aber trotzdem tippte sie zurück.
    Hi.
    Tut mir leid, dass ich letzte Nacht einfach verschwunden bin.
    Sie tippte Ist okay , schickte diesen Satz aber nicht ab. Weil es schließlich alles andere als okay gewesen war. Also löschte sie den Satz und gab stattdessen eine neue, ehrlichere Antwort ein: Ich habe gestern mit meinem Satz nicht sagen wollen, dass ich es dir übelnehme, dass du ein neues Leben angefangen hast. Ich finde Faith sehr nett, sie tut Maya gut, und ich bin froh, weil sie dich glücklich macht. Ich habe nur gesagt, dass es für mich nicht einfach ist. Die Erinnerungen, die ich an uns habe, sind total lebendig, und manchmal tun sie furchtbar weh. Das

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