Dornröschenschlaf
andere ohne Haar. »Mommy und Daddy«, hatte Maya ihr erklärt, als sie am 2. Februar 1999 mit der Zeichnung aus dem Kindergarten heimgekommen war. Das Gemälde von Brenna mit der Krone, das von ihr für ihren Schlüsselbund verkleinert worden war. Eine Collage, die Maya am 19. Januar 2002 angefertigt hatte, ein imitierter Picasso vom 3. März 2005, ein Selbstporträt vom 4. November 2008, auf dem die Zähne und die Stirn erheblich gröÃer als in Wahrheit ausgefallen waren, aber trotzdem nach Aussage der Lehrerin »ein Beweis für wirkliches Talent«. Selbst das Porträt von Miles ⦠lauter grundverschiedene Bilder, denen aber eins gemeinsam war: Sie hatten alle eine Signatur. Wie die meisten anderen Kinder hatte Maya ihre Werke erst in krakeligen Druckbuchstaben, danach in Kursiv und am Schluss nur noch mit ihren Initialen MR signiert.
Doch auf dem Gemälde mit der Blume fand sich keine Signatur. Dabei hatte Iris sämtliche gerahmten Bilder, die im Haus der Mutter hingen, und sogar den Sitz von ihrem Kinderrad mit ihrem Namenszug versehen.
Nur auf diesem einen Kunstwerk, das genau wie der Beweis für ein anderes, finsteres Geheimnis gut versteckt gewesen war, tauchte ihre Signatur nicht auf.
Brenna öffnete die Wohnungstür. Ohne Trent und ohne Maya, die noch bei Larissa war, kam ihr das Apartment leerer als gewöhnlich, totenstill und riesig vor. Sie stellte ihre Tasche ab und nahm mit dem Gedanken Was kann diese Zeichnung zu bedeuten haben? vor ihrem Computer Platz. Wahrscheinlich hatte Dr. Lieberman ihr längst zurückgemailt. Er war niemand, der andere jemals lange auf Antworten warten lieÃ, und als sie nach ihren E-Mails sah, wurde sie auch diesmal nicht enttäuscht.
Sie machte sich auf eine lange Litanei gefasst. Lieberman erklärte immer alles ganz genau, was aber in diesem Fall für sie in Ordnung war. Denn in Bezug auf dieses Bild käme ihr eine möglichst detaillierte Analyse gerade recht.
Brenna öffnete die E-Mail und fing an zu lesen. Doch obwohl die Antwort wie erwartet sehr ausführlich ausgefallen war, kam sie nicht über den ersten Satz hinweg. Sie las ihn zweimal, dreimal, viermal, fünfmal, so, als würde durch die Wiederholung die Bedeutung seiner Worte eine andere â oder wäre leichter zu verstehen ⦠aber falls überhaupt etwas, verwirrte der Prozess sie eher noch mehr:
Diese Zeichnung stammt eindeutig nicht von einem Kind.
Dr. Lieberman erklärte, dass die geraden Linien in der Zeichnung, der nur leichte Druck, mit dem der Buntstift über das Papier gefahren, und die Art, in der das Strichmännchen gezeichnet war â mit Haaren und mit einem Rock, aber ohne ein Gesicht, eher ein Symbol als eine tatsächliche Wiedergabe und für ein Mädchen von sechs Jahren äuÃerst ungewöhnlich war. Und auch wenn die Sonne, die links oben abgebildet war, eventuell als durchaus typisch für ein Kind im ersten oder zweiten Schuljahr angesehen werden konnte, bekäme ein Mädchen dieses Alters die Quadrate, die im Hintergrund zu sehen waren, niemals so präzise hin. Vor allem war die ganze Zeichnung ungewöhnlich detailliert, wies aber nur eine Farbe auf â etwas, was nach Dr. Lieberman wegen der »für die Erstellung eines solchen Werks erforderlichen Aufmerksamkeitsspanne einfach untypisch für Kinder ist«. Zum Abschluss seiner Analyse schätzte Lieberman den Menschen, der die Zeichnung angefertigt hatte, als »im jüngsten Fall jungen Erwachsene« ein.
Brenna musste Lydia einfach finden. Wahrscheinlich mit Ausnahme von Meade und Wright war sie die Einzige, die ihr vielleicht erklären könnte, weshalb dieses seltsame Gemälde â das von keinem Kind gezeichnet worden war â so viel Gewalt und Todesfälle nach sich zog.
Doch wo fing sie im besten Fall mit ihrer Suche an?
Lydia Neff, die unsichtbare Frau. Es gab keine Kreditkartenbelege, keinen Wagen, der auf ihren Namen zugelassen war, und noch nicht einmal Gayle Chandler, ihre beste Freundin, hatte in den letzten beiden Jahren Kontakt zu ihr gehabt.
Doch selbst unsichtbare Frauen haben Interessen oder Hobbys, machte sie sich Mut und dachte an Morascos Satz, dass Lydia des Ãfteren zusammen mit dem pensionierten Polizeichef Griffin in einem Restaurant oder beim Einkaufen gesehen worden war. Aber das half ihr nicht weiter, denn anscheinend hatte Lydia Neff in den vergangenen beiden Jahren
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