Dornroeschenschlaf
verloren zu haben. Ich kann es mir nicht im entferntesten vorstellen. Als Marië hier wohnte, war sie die ganze Zeit bei Mutter und half ihr im Haushalt oder schwere Sachen tragen. Das war bestimmt eine gute Zerstreuung für Marië, die wirklich überhaupt nichts anderes zu tun hatte. Ihre gute Erziehung bekam auch ich zu spüren. Beim Essen sagte sie immer lächelnd: »Das schmeckt aber gut.« Und wenn wir gleichzeitig ins Bad wollten, ließ sie mir den Vortritt: »Geh nur zuerst.« Aber richtig gelebt hat Marië in unserem Haus nicht. Sie war wie ein Wesen aus dem Reich der Illusionen, mit dem man nett zusammen wohnt, etwa so wie mit Alf oder der Bezaubernden Jeannie.
Nur wenn sie weinte, hatte ich sie als lebendiges Wesen empfunden. Später kam es zwar nur noch selten vor, aber wenn ich anfangs, als Marië gerade bei uns eingezogen war, nachts in die Küche ging, um mir einen Kaffee zu machen, weinte sie im Gästezimmer still vor sich hin – das war so gut wie sicher. Ihr Wimmern, das in der Nacht leise die Dunkelheit tränkte, sickerte mir ins Gemüt wie der Dauerregen in der Regenzeit. Auch ich war damals ziemlich am Boden. Ich fühlte mich völlig leer, als stünde ich am Ende der Welt. Wenn Marië in dieser Zeit allein zu Hause war, schlich sie sich immer in das Zimmer meines Bruders, das nach seinem Tod unverändert geblieben war. Kam ich heim und machte mir Sorgen, weil ich Marië nirgends sah, fand ich sie oben im ersten Stock. Dort hockte sie in Yoshihiros Zimmer, das noch seine Aura spüren ließ, zusammengesunken hinter der halb offenen Tür und weinte. Sie weinte auch im Bad. Wenn ich nach Marië in die Wanne steigen wollte und wir uns auf dem Gang zum Badezimmer trafen, ging sie erhitzt und mit vom Baden hochrotem Gesicht an mir vorbei, die Augen rot geschwollen, die Nase triefend. Das Wasser ist bestimmt ganz salzig …! Mit diesem Gedanken stieg ich in die Wanne, und oft wurde mir im heißen Dampf ganz unerträglich zumute.
Daß Weinen hilft, stimmt wohl irgendwie.
Denn mit der Zeit hörte Marië damit auf und zog wohlbehalten wieder zu ihren Eltern.
»Falls du Marië siehst, richte ihr doch aus, sie soll das nächste Mal bitte dann kommen, wenn man sich richtig unterhalten kann«, meinte Mutter.
»Mach ich, wenn ich sie seh«, sagte ich im Aufstehen.
Ich ging zur Uni und gab ein paar Hausarbeiten ab. Dann dachte ich daran, daß ich eigentlich mal wieder mein Fach aufräumen könnte. Als ich den Raum mit den Schränken betrat, bemerkte ich ein Briefchen, das mit Tesastreifen an die Tür meines Schließfachs geklebt war. Ich nahm es ab und las. Die Nachricht war von Ken’ichi, einem Freund, und da stand:
Ich geb dir das Geld zurück.
Ruf mich übermorgen gegen Mittag an. Ken’ichi.
Ken’ichi hatte sich von allen möglichen Leuten Geld geliehen, sich davongemacht und es noch nicht zurückgegeben. An der Uni konnte er sich nicht mehr blicken lassen. Ich hatte ihm alles in allem fünfzigtausend Yen geliehen und gar nicht mehr damit gerechnet, sie jemals zurückzubekommen. Insgesamt hatte Ken’ichi wohl eine ganz schöne Summe zusammengekratzt, und alle waren stinksauer auf ihn. Aber irgendwie kannte ich so was schon, denn Yoshihiro war auch so ein Typ gewesen. Also dachte ich mir bloß: So ist das eben! – ohne mich weiter über ihn zu ärgern. Obwohl mir schon manchmal, wenn ich an Klamotten dachte, die ich gerne haben wollte, durch den Kopf ging: Wenn ich jetzt die fünfzigtausend hätte …! Ein schlechter Kerl ist Ken’ichi deswegen aber nicht, das sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Nett sein und dazu noch Schulden zurückzahlen – solche Typen muß man mit der Lupe suchen …! Mit diesem Gedanken faltete ich Ken’ichis Brief zusammen und steckte ihn in meine Tasche. – Aber warum gibt er mir eigentlich das Geld zurück? Ich neigte den Kopf zur Seite und überquerte den mit Schneeresten bedeckten Innenhof.
»Hey, Shibami!« rief jemand hinter mir her. Als ich mich umsah, stand Tanaka da. Weil er auch einer von denen war, die Ken’ichi Geld geliehen hatten, machte ich einen Versuch: »Sag mal, hat Ken’ichi sich eigentlich bei dir gemeldet, um dir das Geld zurückzugeben?«
»Nee, nicht die Bohne! Das ist echt nicht mehr spaßig! Dreißigtausend hab ich ihm gegeben. Und damit ist er mit einer Frau einfach ab nach Hawaii!« Er war wirklich ganz schön wütend.
»Nach Hawaii?«
»Ja. Er ist jetzt mit ’ner Oberschülerin zusammen.«
»Echt? Und jetzt? Ist er
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