Dornroeschenschlaf
mal wieder Dorschrogen essen, na, so was eben. – Ich dachte mir, Yoshihiro ist echt in Ordnung. Das dachte ich wirklich! Nie würde er mir gegenüber, einem Mädchen, das ihn sehr gern hatte, das ihn in der transparenten Nachtluft von Boston die ganze Zeit angestarrt hatte, ein schlechtes Wort über seine derzeitige Freundin verlieren! Ich merkte, daß ich noch berauscht gewesen war von der besonderen Stimmung der Reise und ging mit mir ins Gericht. Als ich spürte, daß ich mit meinen Gefühlen ein bißchen ins reine gekommen war, hab ich mich auf einer Postkarte für den Brief entschuldigt. -Yoshihiro ist echt ein prima Kerl!«
Als es soweit war, bat ich meinen Freund, uns zu fahren. Wir holten Marië ab und machten uns auf zum Flughafen.
Es war ein schöner kalter Herbsttag. Ein Nachmittag, an dem das Sonnenlicht klar durch die Scheiben in die Ankunftshalle fiel. Bald, nachdem durchgesagt worden war, das Flugzeug sei mit ein wenig Verspätung gelandet, trudelten die Fluggäste aus der Sperre.
Marië hatte ihre langen Haare mit einer Schleife zu einem Pferdeschwanz gebunden. So straff, als wäre er die Verkörperung ihrer eigenen Anspannung und Unruhe.
»Was ist denn los, Marië?« fragte ich.
»Was wohl!« meinte sie. Ihre Gestalt hob sich scharf gegen den weißen Fußboden ab – blauer Pulli, enger beiger Rock. Allein, wie die Hauptdarstellerin in einem Film, starrte sie mit makellosem Profil auf den Monitor in der Ankunftshalle, als wolle sie ihn verschlingen. Deutlicher als alle anderen Wartenden schien sie dreidimensional im Raum zu existieren. Wegen der Begrüßungsszenen um uns herum wurde es langsam eng. Der Strom der ankommenden Fluggäste riß mehr und mehr ab. Wer nicht dabei war, war Yoshihiro. Mein Freund und ich hielten Händchen. »Wann kommt er denn endlich?« fragte ich, beobachtete aber weder den Monitor noch die Schlange, sondern Marië. Ihre wunderschöne Gestalt war gespannt bis in die Fingerspitzen. Als Yoshihiro endlich einen großen Koffer vor sich herschiebend aus der Sperre kam, bahnte Marië sich einen Weg durch das Gedränge. Wie im Traum bewegte sie sich in einem merkwürdigen Tempo auf Yoshihiro zu, der reifer wirkte und etwas müder aussah als damals bei seinem Abschied.
Mein Bruder hatte uns entdeckt und hob die Hand:
»Hey!« Dann sah er Marië geradewegs in die Augen. »Marië! Ist das lange her!« Mit einem kleinen Lächeln und in einem Tonfall, der erwachsener klang als je zuvor, sagte Marië: »Willkommen zu Hause, Yoshihiro!« Im Lärm der Ankunftshalle drang das tiefe Timbre ihrer Stimme bis an mein Ohr.
»Ach, sind die beiden zusammen?« bemerkte mein Freund, der von allem keine Ahnung hatte. Da es sowieso so kommen wird, kann ich ruhig ja sagen, dachte ich und nickte. Ich hörte, wie Marië zu Yoshihiro sagte, daß sie ihm viel zu erzählen habe. Mein Bruder nickte ihr zu und legte den Arm um ihre Schultern.
Am Frühstückstisch fragte Mutter: »Ist Marië eigentlich gestern nacht hier gewesen?«
»Woher weißt du das?« fragte ich überrascht.
»Als ich aufstand, um zur Toilette zu gehen, hat sie in der stockdunklen Küche Kaffee gekocht. Da ich ganz verschlafen war, hatte ich völlig vergessen, daß sie gar nicht mehr bei uns wohnt, und hab gefragt: ›Du bist noch auf?‹ Und als sie lachend ›Ja‹ sagte, war ich zufrieden, bin zurück in mein Zimmer und wieder eingeschlafen. Dann hab ich also tatsächlich nicht geträumt, oder?«
»Nein. Ganz plötzlich war sie da«, sagte ich. Draußen war es blendend hell. Vom völlig aufgeklarten Himmel fielen die Sonnenstrahlen auf die ganz frische Schneedecke. Während ich das beobachtete, stieg ein eigenartiges Gefühl in mir auf, von dem ich nicht wußte, ob es noch Müdigkeit oder Gereiztheit war. Im Fernseher brachten sie die Morgennachrichten, laut drang Leben ins Zimmer. Mutter hatte Vater schon längst zur Bahn gebracht und aß jetzt ein spätes Frühstück mit mir.
»Ob es drüben Probleme gibt?« fragte sie.
Ich lachte. »Drüben! Mariës wirkliches Zuhause ist drüben, Mama. Dort sind ihre richtigen Eltern.« Ich wußte genau, was Mutter meinte.
»Als sie bei uns gewohnt hat, hab ich sie richtig ins Herz geschlossen«, sagte sie. Ich nickte und knabberte weiter an meinem Brot. Von Yoshihiro redet Mutter nicht mehr. Ein Jahr lang hat sie sich damit abgelenkt, an seiner Stelle Marië über alles zu lieben. Manchmal überlege ich, wie es wohl ist, jemanden wie Yoshihiro geboren, großgezogen und dann
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